Süddeutsche Zeitung

Heikle Mission:Von Verstrickung bis Widerstand

Normalerweise führt Pfarrer und Historiker Björn Mensing Besucher durch die KZ-Gedenkstätte in Dachau. Nun soll er, mehr als 70 Jahre nach dem Krieg, im Auftrag der evangelischen Kirche die dunkle Vergangenheit der Institution im Nationalsozialismus beleuchten

Von Thomas Radlmaier

Wenn Pfarrer Björn Mensing Schüler durch das ehemalige Konzentrationslager in Dachau führt, dann beschließt er den Rundgang immer an der evangelischen Versöhnungskirche, am Ende der Lagerstraße. Er fragt die Kinder und Jugendlichen, ob sie Kerzen entzünden wollen, in Gedenken an diejenigen, die an diesem Ort die Hölle auf Erden erlebten. Die Nazis ermordeten im Dachauer KZ und seinen Außenlagern mehr als 41 500 Menschen. Mensing möchte ein Angebot machen. Die Schüler könnten ihre Eindrücke in einem kirchlichen Raum verarbeiten und sich besinnen, bevor sie mit ihren Freunden im Bus nach Hause fahren und wieder laut sein dürften, sagt er. Es gehe darum, "das Erinnern vor Gott zu bringen". Das könne nur die kirchliche Gedenkstättenarbeit. Das Erinnern vor Gott bringen - das tut Björn Mensing, 56, seit mehr als 30 Jahren.

Der Kirchenrat ist kein normaler Pfarrer. Er arbeitet seit 2005 in der evangelischen Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte in Dachau. Während seine Kollegen tagein tagaus Männer und Frauen trauen, Kinder taufen und das Leben feiern, führt er Schüler und Touristen durch die ehemalige Tötungsmaschinerie. Sonntags in den Gottesdiensten erzählt er oft die traurigen Geschichten von Menschen, die im KZ starben. Doch der Job ist für ihn alles andere als deprimierend. "Traumstelle" - das sagt Mensing über seinen Posten. Es sei die einzige Pfarrerjob, bei dem zeitgeschichtliche Fragestellungen zum Kern gehörten.

Mensing ist Pfarrer. Und er ist auch Historiker. Er ist in Lüneburg aufgewachsen und hat in Kiel und München Theologie und Geschichte studiert. Seit den Achtzigerjahren beschäftigt er sich mit der Kirchengeschichte des "Dritten Reichs" und der Nachkriegszeit. Nun hat ihn die Leitung der bayerischen Landeskirche auserwählt für ein riesiges Forschungsprojekt. Mensing soll die dunkle Vergangenheit der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus und bis in die Ende der Fünfzigerjahre beleuchten.

Die evangelische Kirche spielte im Nationalsozialismus eine mehr als fragwürdige Rolle. Die Leitung ließ es geschehen, dass die Nazis Pfarrer und deren Familien terrorisierten, verfolgten und einige in Konzentrationslager deportierten. Auch unter Pfarrern und Kirchenbeamten gab es stramme Nationalsozialisten und Judenhasser. Zwar verlas der Führungszirkel der evangelische Kirche in Deutschland wenige Monate nach Kriegsende das Stuttgarter Schuldbekenntnis, wonach man evangelische Christen für Nazi-Verbrechen mitverantwortlich machte. Doch innerhalb der Organisation Kirche musste niemand Rechenschaft ablegen. Im Rahmen der staatlichen Entnazifizierung musste kein einziger Kirchenmitarbeiter seinen Dienst quittieren. Selbst die bekannten NSDAP-Mitglieder durften während der Überprüfungen weiter arbeiten, was eigentlich verboten war. Eine politische Belastung war kein Grund, jemandem zu kündigen. Im Gegenteil: Die Kirchenleitung stellte Zeugnisse aus, um Kollegen bei der Entnazifizierung zu schützen. Es seien bewusst Dinge verheimlicht und gefälscht worden, sagt Mensing. "Das lässt sich für mich nur dadurch erklären, dass die Kirchenleitung die Entnazifizierung als ungerechtfertigte überzogene Siegerjustiz betrachtete."

Mehr als sieben Jahrzehnte nach Kriegsende möchte die evangelische Kirche nun aufräumen mit ihrer Nazi-Vergangenheit. Der Auslöser war die Geschichte des Alfred Schemmel. Eine Journalistin vom Fränkischen Tag hat diese im vergangenen Jahr aufgedeckt. Schemmel, der aus dem rumänischen Siebenbürgen stammte, arbeitete von 1946 an als Seelsorger in Bamberg. Er unterrichtete auch Schüler in Religion. Was keiner wusste: Der fürsorgliche und beliebte Pfarrer war vor 1945 SS-Kompanieführer im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Er beteiligte sich aktiv am Massenmord der Juden. Nach dem Krieg fälschte er seinen Lebenslauf und sein Geburtsdatum, selbst dass er Pfarrer war, stimmte nicht. Dennoch konnte er bei der evangelischen Kirche anheuern, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hätte. Sein Geheimnis nahm Schemmel vor mehr als 30 Jahren mit ins Grab.

Bei der Landeskirche reagierte man schnell auf den Fall. Der Kirchenrat wandte sich im Herbst vergangenen Jahres an Mensing und erteilte ihm wenige Monate nach der Veröffentlichung des Artikels im Fränkischen Tag Zugang zu den Akten von 2500 Personen. Es sind alle Pfarrer, Juristen, gehobene Beamte und Diakone, die während der Nazi-Zeit und bis Ende der Fünfzigerjahre für die evangelische Kirche in Bayern tätig waren. Zusammen mit einem Historiker in Berlin untersucht Mensing, ob deren Namen in den NSDAP-Karteien und Akten oder sonstigen Beständen des Bundesarchivs auftauchen. Wenn es Treffer gibt, durchforstet er die entsprechenden Kirchenunterlagen. Er sucht darin etwa nach Äußerungen, Selbstreflexionen oder anderen Anhaltspunkten, die darauf schließen lassen, wie die Mitarbeiter ihre Rolle in der NS-Zeit sahen. Für Mensing stellen sich zwei Fragen: "Wie ist der Einzelne damit umgegangen?" und: "Wie ist die Kirchenleitung damit umgegangen?" Also wie und ob es sich nach dem Krieg auf die Karriere ausgewirkt habe, wenn sich jemand an den Verbrechen der Nazis beteiligte oder gegen das Regime opponierte. Letzteres ist Mensing wichtig. Er suche nicht nur nach Spuren von Verstrickung, sondern auch von Widerstand, sagt er. "Ich hoffe, das ich auch noch auf Verfolgte stoße, deren Schicksal so noch nicht bekannt ist."

Mensing muss nicht bei Null anfangen. Ende der Achtzigerjahre promovierte er mit einer Arbeit über Pfarrer, die während des Nationalsozialismus im evangelischen Kirchendienst tätig waren. Monatelang reiste er durch Bayern, um mehr als 200 ehemalige Pfarrer zu besuchen und interviewen. Als sein Buch erschien, wurde er massiv angefeindet. Einige Ruhestandspfarrer forderten den damaligen Landesbischof auf, gegen Mensing wegen kirchenschädigenden Verhaltens vorzugehen. Der Sohn eines Pfarrers verklagte den Verlag. "Das sind unerfreuliche Situationen", sagt Mensing. "Aber ich habe mich nicht sonderlich beeindrucken lassen."

Seine Forschungsergebnisse von damals kann er nun anreichern. Jetzt nimmt er auch Kirchenbeamte, Diakone und Juristen in den Blick sowie rund 300 Pfarrer, die wie Schemmel als Volksdeutsche in Osteuropa lebten und nach dem Krieg nach Bayern vertrieben wurden. Mensing glaubt, dass er noch einige SS-Mitglieder findet. "Man kann nicht warten, dass Journalisten auf etwas stoßen", sagt er. Es sei gut, dass die Kirche die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit nun selbst in die Hand genommen hat.

Dass sich die Kirchenführung entschloss, Mensing mit dem Forschungsprojekt zu beauftragen, ist naheliegend. Wenn er über die Nazi-Zeit und die Jahre nach dem Krieg spricht, sprudelt sein Wissen nur so aus ihm heraus. Man muss ihn dann bremsen, sonst kommt man nicht mit bei all den Jahreszahlen, Namen und Geschichten, die er in seinem Kopf abgespeichert hat. Doch wenn man ihn fragt, wann er selbst angefangen hat, sich für Geschichte zu interessieren, muss er plötzlich nachdenken: "Viele Klassenkameraden hielten mich aus mehrerlei Hinsicht für nicht ganz normal", sagt er. Als Zwölfjähriger hat er sich von seinen Eltern zu Weihnachten das Abonnement einer Geschichtszeitschrift gewünscht ("Damals" heißt die Zeitschrift. Und anders als es der Name sagt, erscheint sie immer noch). Seine Freunde stutzten auch später, als Mensing im jungen Erwachsenenalter sonntags keinen Gottesdienst ausließ. "Es war mein Ehrgeiz, wenn ich bis fünf Uhr in der Disco war, um zehn Uhr in der Kirche zu sein."

Als Pfarrer der evangelischen Landeskirche ist er ein weit Gereister. Anfang der Neunzigerjahre tritt er eine Stelle als Vikar in Garmisch-Partenkirchen an, anschließend wird er Gemeindepfarrer in Gauting. Danach ist er am evangelischen Bildungswerk in Bayreuth als Studienleiter tätig. An all seinen Stationen beschäftigt er sich auch sich mit der Kirchengeschichte vor Ort. In Garmisch-Partenkirchen stößt er in den Archiven auf das vergessene Schicksal des ersten evangelischen Pfarrers der Marktgemeinde: Ernst Lipffert gerät Mitte der Dreißigerjahre ins Visier der Nazis. Seine Frau Klementine unterrichtet Kinder und Jugendliche für die evangelische Gemeinde in Religion. Die Christin hat einen jüdischen Vater. Das reicht den Nazis, um sie zu terrorisieren. Das antisemitische Wochenblatt "Der Stürmer" hetzt im Jahr 1935: "Eine Jüdin erteilt evangelischen Religionsunterricht! Es ist eine Schande, wenn ein evangelischer Pfarrherr eine Jüdin zur Frau hat." Die evangelische Kirchenleitung knickt ein. Ernst Lipffert wird nach Oberfranken versetzt. Mensing deckt die Geschichte Anfang der Neunzigerjahre auf. Er hält eine szenische Lesung. Daraufhin wird das Kinder- und Jugendhaus hinter der evangelischen Kirche in Garmisch-Partenkirchen in "Lipffert-Haus" umbenannt.

In Gauting recherchiert Mensing die Geschichte von Walter Hildmann. Er ist Mitte der Dreißigerjahre Vikar in der Gemeinde, kritisiert offen das Unrechtsregime der Nazis und tritt unbeirrt für seine Glaubensüberzeugung ein. 1938 stellt ihn die Gestapo nach, 1939 entlässt ihn die Kirchenleitung aus dem Amt. Er wird zur Wehrmacht einberufen und fällt im folgenden Jahr in Frankreich. Mensing macht Hildmanns Schicksal im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung publik. Heute ist in Gauting das evangelische Gemeindehaus nach Walter Hildmann benannt. Mensing sagt: "Ich will, dass an diejenigen gedacht wird, die wegen widerständigen Handelns oder aus rassistischen Gründen verfolgt wurden."

Nun hat Mensing das bisher größte Forschungsprojekt seiner Karriere begonnen. Die Kirchenleitung hat ihn freigestellt, in der KZ-Gedenkstätte arbeitet er nur noch halbtags. Den Rest der Zeit widmet er sich der Aufgabe, die Rolle der evangelischen Landeskirche in der NS-Zeit zu durchleuchten. Das Vorhaben ist durchaus sportlich. Mensing hofft, im Oktober 2020 seine Ergebnisse präsentieren zu können. Er hat dieses Datum bewusst gewählt: Im Oktober 1945 hat sich die evangelische Kirche in Deutschland zu ihrer Mitschuld an den Nazi-Verbrechen bekannt.

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Quelle:
SZ vom 17.07.2018
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