Süddeutsche Zeitung

Haus der Kunst:"Wir sind sexy, weil wir langsam sind"

Chris Dercon, Leiter im Münchner Haus der Kunst, über Genies, die Vorteile der Finanzkrise und die bevorstehende Massenflucht aus Berlin.

Willi Winkler

Chris Dercon wurde 1958 im belgischen Lier geboren. Nach Stationen in Belgien und New York, nach Ausstellungen in Paris und Rotterdam ist er seit 2003 der sehr erfolgreiche Leiter im Münchner Haus der Kunst. In der kommenden Woche eröffnet dort "Made in Munich". Die Ausstellung zeigt Arbeiten von den 1960er Jahren bis heute, die von Münchner Galerien produziert und vertrieben werden - u.a. Arbeiten von Baselitz, Beuys, Flavin, Hamilton, Nitsch, Blinky Palermo und Gerhard Richter. Im Rahmen der Ausstellung wird es am 14.Dezember im Haus der Kunst eine Performance von Christoph Schlingensief geben und am 15. Dezember ein Konzert mit Patti Smith. Gemeinsam mit dem Cellisten Adrian Brendel gibt Patti Smith außerdem am 16. Dezember ein Weihnachtskonzert in der Allerheiligenhofkirche der Münchner Residenz.

SZ: Herr Dercon, wie wird man Museumsdirektor? Genialität?

Chris Dercon: Als Kind wollte ich Missionar werden. Ich wusste nur nicht, ob ich nach Afrika gehen sollte oder nach Brasilien. Alle drei, vier Wochen kamen Missionare bei uns vorbei. Die aus Brasilien waren von Dom Hélder Câmara geprägt, das waren die Revolutionäre, und die aus dem Kongo waren die Rechten. Das wurde mein Dilemma. Es ging mir wie dem Mann in einem Cinema-Novo-Film von Glauber Rocha, wo er jemanden an der Weggabelung filmt und fragt: "Verzeihung, welcher ist bitte der richtige Weg zur Nouvelle Vague?" Ich stand am Kreuzweg: Afrika oder Brasilien? Die Favelas oder Kinshasa? Da mein Vater viel in Afrika war, wurde ich jedenfalls vom Fernweh befallen.

SZ: Ist das eine belgische Krankheit? Euer König Leopold war doch der große Kolonialherr im Kongo.

Chris Dercon: Moment, Moment . . . Wir lebten damals in Tervuren, und zwar gleich hinter dem Königlichen Museum für Zentralafrika. Im Park dort hatte sogar mal ein richtiges kongolesisches Dorf existiert.

SZ: Ein künstliches wie Marie Antoinettes Bauernhof?

Chris Dercon: Die Kongolesen waren mit dem Schiff nach Belgien gebracht worden. Wahrscheinlich hatte man ihnen etwas versprochen. In Belgien haben sie zwei, drei Wochen überlebt, dann starben sie an Tbc. An der Kirche von Tervuren finden Sie noch 14 Gräber, auf denen französische Namen wie Jean oder Jacques stehen.

SZ: Waren sie getauft?

Chris Dercon: Natürlich wurden sie vorher noch schnell getauft! In Tervuren spielten wir immer in dem Museum. Unten im Keller standen ausgestopfte Zebras und Affen. Mit denen habe ich meine Kindheit verbracht und träumte von der Mission. Aber mit elf wurde mir klar, dass ich an diesem Kreuzweg nicht stehen würde, sondern dass ich Journalist werden musste.

SZ: Mit elf?

Chris Dercon: Ich hatte ein Aufnahmegerät. Damit bin ich ins Dorf, um den Leuten soziologische Fragen zu stellen.

SZ: Welche Fragen?

Chris Dercon: "Was bitte halten Sie von der Pille?"

SZ: Wann war das?

Chris Dercon: Das war 1969, nachdem der Papst sie verboten hatte.

SZ: Und das im katholischen Belgien!

Chris Dercon:Das ist meinen Großeltern zugetragen worden, und die haben dann schnell das Tonband konfisziert. Also war es mit Journalismus vorbei. Ich bin dann Künstler geworden. Mit 16 wurde mir klar, dass ich kein Genie, sondern der schlechteste Künstler Europas war. Sodass ich auch mit der Kunst wieder aufhörte.

SZ: So viel Einsicht ist selten.

Chris Dercon: Das finde ich auch. Und ich würde gerne mal eine Ausstellung über Künstler machen, die rechtzeitig gemerkt haben, dass es große Scheiße ist, was sie da machen.

SZ: Dann reden wir doch mal über Kunst. Die Finanzwelt bricht zusammen, Mäzene haben kein Geld mehr. Gut oder schlecht?

Chris Dercon: Beides. Die Krise wird Folgen haben, aber nicht für das Top-Segment. Etwa 200 neu- und altreiche Sammler, von denen die Hälfte sogar etwas von Kunst versteht. Dieses Segment wird bleiben.

SZ: Bitte Namen!

Chris Dercon: Nein, keine Namen. Dieses Top-Segment besteht aus echten Mäzenen. Die anderen - Russen, Chinesen, vielleicht auch ein paar Leute vom Golf -, die kaufen sich in diese soziale und kulturelle Welt ein.

SZ: Welche Folgen hat diese Geldkrise für ein Museum wie das Haus der Kunst?

Chris Dercon: Das Gute ist, dass viele Leute, die Kunst kaufen, ohne Ahnung davon zu haben, wieder unsere Expertise brauchen. Investoren wie Künstler konnten lange sagen, wir brauchen euern Kanon nicht, wir kommen gut ohne euern Geschmack aus.

SZ: Weil alles gleich weggekauft wurde.

Chris Dercon: Lange wurde alles gekauft, gleich ob gut oder schlecht, Hauptsache neu. Noch vor zwei Jahren gab es nur Kippenberger. Alles war gut, wenn es nur von Martin Kippenberger war. Jetzt dämmert die Einsicht, dass es tatsächlich gute und schlechte Kippenbergers gibt. Und wenn strengere Kriterien angewendet werden, braucht man wieder opinion leaders - und das sind wir. Wir sind sexy, weil wir langsam sind. Ich sage Ihnen: Die Langsamkeit von Museen nimmt kein Ende!

SZ: Höre ich Schadenfreude?

Chris Dercon: Ich verspüre keinen Sozialneid auf die reichen Sammler. Aber ein wenig Schadenfreude fühle ich, denn wir stehen offenbar nicht mehr wie die Vollidioten da.

SZ: Vive la crise?

Chris Dercon: Die Krise hat ihre Vorzüge: Ich muss nicht mehr vor Leuten auf den Knien herumrutschen, die in Moskau zwanzigtausend Euro für ein T-Shirt ausgeben. Der Trend dort sind relativ junge, gut aussehende Künstlerinnen, die mit, nun ja, mittelalten Männern verheiratet sind.

SZ: Statt eine Boutique zu führen.

Chris Dercon: Ja, das ist Boutique-Kunst wie in Boutique-Hotels, und die muss ich nicht zeigen. Ich muss auch nicht ans Telefon gehen, wenn mich ein Berater anruft und mir anbietet, eine ganze Ausstellung einschließlich Katalog und Preview zu bezahlen. Weil die Kunstwerke im Wert nach unten gehen, wird es für uns wieder möglich, Ausstellungen mit teuren Exponaten zu machen. Ich kriege im Moment sehr interessante Angebote, aber ich lasse sie alle warten: Let them bleed!

SZ: Auch die Avantgarde entstand im Widerstand gegen das Bürgertum!

Chris Dercon: Aber ich bitte Sie, das war im 19. Jahrhundert! Heute bewegt sich doch alles, nur die Avantgarde nicht. Dabei braucht die Bourgeoisie die Avantgarde dringend, sie kreiert die Avantgarde ja sogar - um selber Bourgeoisie bleiben zu können.

SZ: Und die Kunst ist willig.

Chris Dercon: Irgendjemand muss Kunst finanzieren, damit sie entstehen kann. Ohne Aufmerksamkeit zu Lebzeiten bleibt nur das Comeback. Das Ohr von van Gogh gibt es nicht mehr. Die Moderne, die Concept Art zum Beispiel, die gäbe es so radikal nicht, wenn nicht Leute bereit gewesen wären, viel Geld in Lawrence Weiner oder Joseph Kosuth zu investieren. Eine ganz neue Situation ist entstanden: Bourgeoisie und Künstler kreieren die Kunst zusammen, sodass alle finanzielles, soziales und kulturelles Kapital ansammeln können. Da hat sich ein Dreieck gebildet, in dem die Grenzen nicht mehr klar sind.

SZ: Aber man kann sagen, wo der Ausgangspunkt liegt: bei der Kunst. Ohne die Kunst, ohne den Künstler geht es nicht.

Chris Dercon: Die Kunst schafft längst ihre eigene Ökonomie. Heute kann ich sagen: Ich bin 18, ich bin Künstler, das ist mein Job, und ich möchte mir ein zweites Haus kaufen.

SZ: Mit achtzehn?

Chris Dercon: Natürlich, und wenn man mit 23 keinen Kunsthändler hat oder wenn man seine Preise zu niedrig ansetzt, wird es schwierig. Mit 27 oder 28 Jahren hat man keine Chance mehr auf eine Karriere, Genie hin oder her. Man muss früh einsteigen, weil man nur sieben bis zehn Jahre die Chance hat, in diesem Dreieck mitzuspielen.

SZ: Das heißt, die Karriere eines Künstlers ist zeitlich so beschränkt wie die eines Models oder eines Tennisspielers.

Chris Dercon: So ist es. Vielleicht ändert sich das wieder. In der Kunst gibt es die Möglichkeit eines Comebacks, und davon leben wir. Wir glauben an den Lazarus-Effekt. Die Auferstehung eines Totgeglaubten.

SZ: Johannes Vermeer ist ein Beispiel.

Chris Dercon: Ich war Direktor vom Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam. Einer meiner Vorgänger hat sich 1848 geweigert, den Vermeer, der ihm angeboten wurde, zu kaufen. Für den war der Vermeer ein schlechter Maler. Das Bild hat dann der Louvre gekauft, kurz vor der Wiederauferstehung Vermeers. Unsere Ausstellung "Made in Munich", die jetzt beginnt, ist auch so eine Lazarus-Geschichte: lauter Sachen, die es gab und von denen niemand mehr wusste! Plötzlich sind alle wieder an Sachen von Arnulf Rainer und Dieter Roth aus den sechziger Jahren interessiert. Kennen Sie Jack Smith?

SZ: Den New Yorker Experimentalfilmer?

Chris Dercon: Wissen Sie, dass der versucht hat, mich zu vergiften?

SZ: Traditionell mit Absinth oder richtig?

Chris Dercon: Ich lebte damals in New York und hörte von ihm. Meine Chefin im P.S. 1 Institute of Contemporary Art sagte: "Wir haben nicht viel Geld, aber rede mal mit ihm!" Jack lebte in der Bowery unten in Manhattan. Er hielt sich für einen Wiedergänger von Lawrence von Arabien und lief in einem weißen Gewand herum; auch das Studio war wie eine arabische Zeltburg. Ich schlug ihm also eine Ausstellung vor. "Ich habe nie Geld gehabt", sagte er, "das kostet 100 000 Dollar." So viel Geld hatten wir nicht. Wir haben uns trotzdem angefreundet. Er hat dann für mich ein food art buffet gemacht, und nach einer halben Stunde ist mir furchtbar schlecht geworden - sodass ich weggerannt bin. Jack Smith ist 1989 gestorben. Barbara Gladstone hat gerade das gesamte Archiv von Jack Smith gekauft.

SZ: Es dürfte heute aber eher schwer für einen Künstler sein, nicht entdeckt zu werden. Dass Kunst schmückt, weiß der Investor doch auch, ohne Pierre Bourdieu gelesen zu haben.

Chris Dercon: Kunst ist auch eine Kapitalanlage, das dürfen Sie nicht vergessen.

SZ: Und ohne Kapital gäbe es die Leipziger Schule nicht.

Chris Dercon: Das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt auch in der Kunst. Wenn Sie heute Künstler im Atelier besuchen und nach Neuem fragen, hören Sie: "Ich habe nichts, ich habe ja keine Ausstellung."

SZ: Heißt das, die malen nur noch, wenn sie gleich ausgestellt werden?

Chris Dercon: Für immer mehr Künstler gilt: Wenn ich keine Möglichkeit habe auszustellen, mache ich nicht weiter. Kunst ist halt eine kommerzielle Angelegenheit.

SZ: Man muss also das Angebot kleinhalten, damit die Preise oben bleiben. Wenn Picasso den richtigen Agenten gehabt hätte, hätte der gesagt: "Du musst von der Blauen in die Rote Periode wechseln!"?

Chris Dercon: Picasso hatte verschiedene Agenten.

SZ: Aber Kahnweiler hat ihm nicht gesagt: "Junge, du musst jetzt anders malen, schau dir mal den Braque an, von dem kannst du was lernen!"

Chris Dercon: Symbol- und Marktwert gehen aber seit der Gründung der Avantgarde Hand in Hand. Heute herrscht totale Professionalisierung, Künstler ist heute ein Beruf wie jeder andere. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich verurteile das nicht.

SZ: Wer soll das alles kaufen?

Chris Dercon: Es gibt nie zu viele Künstler. Außerdem gibt es neben sozialem, künstlerischem und ökonomischem Kapital noch etwas anderes: den Enthusiasmus.

SZ: Bei Sammlern oder Künstlern?

Chris Dercon: Bei beiden. Enthusiasmus ist ein postmarxistischer Begriff. Sammler sind alle Postmarxisten. Sie sind enthusiastisch, suchen das Risiko, haben keine Angst vor dem Hässlichen - dem Fetisch. Wie glücklich wäre Walter Benjamin, wenn er heute lebte! Im postmarxistischen, benjaminischen Zeitalter! Alles ist Fetisch. Und an der Basis der Kunst liegen Traumata.

SZ: Traumata oder Träume?

Chris Dercon: Traumata! Heute würde Benjamin den Begriff des eben Vergangenen aus den Liedzeilen von "Strawberry Fields Forever" von den Beatles entwickeln, die ja viel interessanter sind als irgendwelche Brecht-Sätze aus den 30er Jahren. Das gerade Vergangene ist schwer zu formulieren: Ist es etwas Physisches oder etwas Intellektuelles? Für uns heißt das: Wie gehe ich mit dem gerade Vergangenen um?

SZ: Das hat Benjamin doch formuliert: Das ist der Engel der Geschichte, der mit dem Rücken voran in die Zukunft geht, während sich vor ihm der Schutt der Vergangenheit aufhäuft.

Chris Dercon: Oder wie es bei Nabokov heißt: Die Zukunft ist die Vergangenheit im Rückspiegel eines Wagens. Eines schnellen Wagens - wie zum Beispiel dem, in dem sich der Haider totgefahren hat.

SZ: Ein früher Tod hilft beim Nachruhm.

Chris Dercon: Wir haben uns Warhols Vorstellung von der Zeitkapsel zu eigen gemacht, weil wir nun mal alle lange leben wollen. Das damit verbundene Versprechen der ewigen Jugend ist total traumatisch. Schauen Sie sich fünfzigjährige Menschen an, die sich als party kids herrichten! Es ist das ultimative Trauma für mich, in einen Club zu gehen wie die "Registratur" hier in München. Aber weil ich das Trauma liebe, muss ich mich damit auseinandersetzen.

SZ: Damit wären wir bei der Münchner Gesellschaft, die Sie als Museumsdirektor unweigerlich bespielen müssen.

Chris Dercon: Als bekannt wurde, dass ich nach München gehe, haben mir alle Lion Feuchtwangers "Erfolg" geschenkt. Ich hatte am Ende 25 Exemplare des Romans. 24 davon musste ich wieder loswerden.

SZ: Sie sind jetzt fünf Jahre hier: Wie ist die Münchner Gesellschaft?

Chris Dercon: Ich habe hier einen Nachfahren von Kaiser Maximilian von Mexiko getroffen, der sagte: "Sie heißen doch Herr Dercon - ohne Titel! Gell?" Ist das toll?! Mich fasziniert diese Gesellschaft! . . . Während meines Militärdiensts hatte ich übrigens Aufsicht im belgischen Militärmuseum. Ich stand jeden Tag vor dem Einmachglas mit dem von den Aufständischen durchlöcherten Brustfleisch von Maximilian von Mexiko. An den Seiten war das zerfranst wie ein Tiefseefisch. Sieben Einschusslöcher. Surreal wie ein Bild von Dalí. Das hat mein ganzes Leben geprägt.

SZ: Dann machen Ihnen die Hakenkreuze hier in der Deckenbemalung natürlich auch nichts mehr aus.

Chris Dercon: Für einen Ausländer ist vieles leichter, darum kann ich hier auch einen knienden Hitler zeigen. Das Münchner Trauma, das Feuchtwanger beschreibt, war auch 1945 nicht vorbei - es währte bis zum Ende der Ära Strauß.

SZ: Und die Münchner Gesellschaft?

Chris Dercon: Liebe ich. Ich freue mich, wie hier high and low durcheinandergehen. Bei einer Premiere in der Oper neulich war ich entsetzt, aber positiv entsetzt, denn es war, wie Oper früher einmal war.

SZ: Thusnelden und Siegfriede?

Chris Dercon: Nein, nein, die Oper war früher Markt und Parlament. Niemand interessierte sich für das, was auf der Bühne passierte. Die Sänger sangen, und die Frauen schrieben ihnen Liebesbriefe. Die Oper fand also nicht auf der Bühne, sondern im Publikum statt. Bei dieser Aufführung nun in der Staatsoper war es ebenso! Die Leute redeten miteinander, protestierten, schimpften. Der irrste Moment war, als in der Reihe genau hinter Schlingensief eine Frau einen Schlaganfall erlitt. Christoph, der gerade erst von seiner Todeskrankheit genesen ist, springt als Einziger auf und ruft: "Ist hier ein Arzt?"

SZ: Und wie kommt Ihr genialer Blick hier an? Sie kennen sich gleichermaßen aus bei den Beatles wie bei Bill Viola.

Chris Dercon: Oh, Bill Viola, jetzt wird es gefährlich!

SZ: Ist das positiv gemeint?

Chris Dercon: Nein, Viola ist fundamentalistisch. Diese Heiligkeit, o là, là! Zu Ihrer Frage: Ich akzeptiere nicht, dass man nicht weiß, was in anderen Disziplinen vorgeht.

SZ: Sie bestätigen damit, dass es mit der Erfindung des 18.Jahrhunderts, dass Kunst autonom sei, vorbei ist.

Chris Dercon: Da ist die Kunst selber schuld dran. Weil sie glaubte, dass sie nichts mehr braucht außer sich selbst. Das Problem der Kunst ist doch nicht das Ineinandergreifen von Symbol und Marktwert. Sondern diese von sich selbst überzeugte Autonomie.

SZ: Darf der Künstler nicht mehr autonom, darf er kein Genie mehr sein?

Chris Dercon: Ach, ich habe so sagenhaft viele Künstler kennengelernt, die sich selber zum Genie erklärt haben, die auf Tischen tanzten, die Hitlergrüße austeilten, und was weiß ich. Es reicht mir jetzt. Ich bin schon so oft weggelaufen, wenn Mario Merz schon wieder erklärte, er sei der liebe Gott oder immerhin Nietzsche . . .

SZ: In "Dichtung und Wahrheit" lässt sich Goethe die Herkunft seines Namens von Herder erklären. Der Name komme von den Goten, den Göttern - oder von Kot, sagt Herder..

Chris Dercon: Oh, und was sagt Goethe?

SZ: Er tendiert zum Göttlichen, das ist doch klar. Kunst ist schließlich der Ersatz für Religion. Das muss befriedigt werden.

Chris Dercon: Fra Angelico verstand seine Malerei als göttliche Emanation. Er war nichts weiter als ein Werkzeug des heiligen Geistes, der Taube. Auch säkulare Künstler haben dieses enge Verhältnis zum Göttlichen. Dürer hält sich für ein Genie, das in eine Konkurrenz mit Gott tritt. Damien Hirst ist genauso. Das ist wie eine Priesterkaste. Aber ich als verhinderter Missionar - ich glaube nicht daran.

SZ: Für Künstler ist dieses Selbstbewusstsein wie Helium, das sie aufbläht, oder?

Chris Dercon: Das kommt aus der Aufklärung. In der Krise des Spätbarock wird die Montgolfière erfunden. Die Leute wollen mit dem Ballon hoch in die Luft!

SZ: Wer wollte es ihnen verdenken: Sie suchen die Perspektive von oben.

Chris Dercon: Es ist gut, dass es mit dem Göttlichen jetzt vorbei ist. Auch finanziell. Die Kunst geht andere Wege. Ich habe interessante Gespräche mit dem Kultusministerium hier in München geführt. Die fragen: "Wie können wir jetzt die öffentliche Struktur besser versorgen, damit es eine bessere Kultur gibt, eine Form von Kultur, die Berlin nun mal nicht hat?"

SZ: Was hat Berlin denn?

Chris Dercon: Berlin? Zigtausende Junge Kreative ohne Geld, die ständig Bewerbungsmappen und E-Mails nach München schicken!

SZ: Was wird aus denen?

Chris Dercon: Es wird bald eine große Massenflucht dieser jungen Menschen raus aus Berlin einsetzen - ein Kinderkreuzzug! Zu Fuß, in zerrissenen Adidas-Anzügen, kaputte I-Books unterm Arm, kaputte Sonnenbrillen auf der Nase, so werden sie in andere Städte flüchten, Köln, Düsseldorf, Hamburg, natürlich auch nach München. Sie werden sich hier auf dem Marienplatz versammeln und für ein Minimaleinkommen demonstrieren!

SZ: Oh wei . . .

Chris Dercon: In Berlin erleben Sie außerdem, wie sich eine komplette Großstadt eigentlich ausschließlich auf den Immobilienmarkt einpendelt. Dort findet keinerlei demokratische Auseinandersetzung mehr statt, kein Austausch. Sondern stattdessen eine zwanghafte Kooperation.

SZ: Verordnete Kunst?

Chris Dercon: Verordnete Kunst. Eingegeben durch private Interessen. In München sagen die Politiker: "Lassen Sie uns den Standort München entwickeln, lassen Sie uns mal über das Publikum reden."

SZ: Was heißt das?

Chris Dercon: Das heißt, man muss zulassen, was man nicht versteht, was man nicht kennt, auch da, wo man geistiger, aber nicht materieller Eigner ist. Museum heißt, Kunst für unterschiedliche Menschen zu gleicher Zeit weit zu öffnen - eine Art Elitarismus für die Masse. Das ist heute Politik hier im schönen Freistaat Bayern, also in dem Land, über das Feuchtwanger so böse geschrieben hat. Gedächtniskultur und Öffentlichkeit stehen sich hier so sehr nah. Genial. Und schön für mich.

SZ: Alles wird gut?

Chris Dercon: Alles was Skandal war, ist jetzt vorbei. Und deshalb freue ich mich, dass wir vom Kapital nicht mehr abgestraft werden. Die Versklavung ist vorbei . . . Und die Geschichte? Hat ein Happy End!

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Quelle:
SZ vom 15.11.2008/reb
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