Hauptamtlich ehrenamtlich:In guten Händen

Hauptamtlich ehrenamtlich: In der Wohnung von Ellen Fritsche hängen unzählige Bilder von Händen an den Wänden. Es ist verlockend, diese als Symbol zu sehen: als "helfende Hände".

In der Wohnung von Ellen Fritsche hängen unzählige Bilder von Händen an den Wänden. Es ist verlockend, diese als Symbol zu sehen: als "helfende Hände".

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Telefonseelsorge, Hausaufgabenhilfe, Kirchenvorstand: Ellen Fritsche hat nicht gezählt, wie viele Ehrenämter sie im Laufe ihres Lebens übernommen hat. Man kann es so sagen: Es waren sehr viele

Von Gerhard Fischer

Wenn man in die Wohnung von Ellen Fritsche kommt, sieht man erst einmal - viele Hände. Sie hängen an den Wänden: gezeichnete Hände, fotografierte Hände, Bilder von Händen aus Rom, Bilder von Händen aus Neuseeland. "Zu jeder Hand gibt es eine Geschichte", sagt Fritsche. Es ist verlockend, diese Hände als Symbol zu sehen: als Fritsches "helfende Hände". Oder weniger pathetisch: Hier wohnt eine Anpackerin.

Es gibt Menschen, die Ellen Fritsche als "hauptamtliche Ehrenamtliche" bezeichnen. Fritsche, 87, hat Jahrzehnte ehrenamtlicher Arbeit hinter sich und bestimmt noch einige Jahre vor sich - sie wirkt nimmermüde. Momentan macht sie, unter anderem, Hausaufgabenhilfe für Migrantenkinder. "Um fünf vor zwei muss ich weg", sagt sie zur Begrüßung um 12 Uhr, "um zwei Uhr beginnt die Hausaufgabenbetreuung - ich erwarte von den Kindern, dass sie pünktlich sind, also muss ich es auch sein."

Ellen Fritsche hat nicht gezählt, wie viele Ehrenämter sie im Laufe ihres Lebens übernommen hat. Man kann es so sagen: Es waren sehr viele. "Ehrenämter erfüllen mich", erklärt sie. "Meine Kinder sagen, andere häkeln in deinem Alter, aber ich will das nicht - ich will gefordert sein." Und Fritsche sagt offen, sie könne sich "die Ehrenämter nur leisten, weil die Firma meines verstorbenen Mannes mich saugut versorgt." Ihr Mann war im Vorstand eines großen Versicherungsunternehmens.

Ellen Fritsche ist in einem Offiziers-Haushalt in einer norddeutschen Kleinstadt aufgewachsen. Sie hieß damals Ellen von Richthofen, ihr Vater Wolfram war ein Vetter des Fliegers Manfred von Richthofen, des "roten Barons", der im Ersten Weltkrieg die meisten Abschüsse hatte. Wolfram von Richthofen flog in der Jagdstaffel seines Vetters mit, im Zweiten Weltkrieg war er General. Ellen Fritsche sagt nur, sie habe ein "ambivalentes Verhältnis" zum Vater. Man könnte viel mehr dazu sagen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls starb der Vater im Juli 1945 an einem Gehirntumor. "Meine Mutter wollte danach nicht mehr leben, aber ich war gerade 17, ich platzte vor Kraft und wollte hinaus ins Leben", sagt Ellen Fritsche. Die Mutter schickte sie zu Freunden des Vaters an den Tegernsee. Eines Tages fuhren sie gemeinsam nach München. "Wir waren in der Brienner Straße", erzählt sie, "da beim Café Luitpold, ich habe dreimal geschnuppert und wusste: Hier will ich her."

Sie hatte ihr Abitur wegen des Krieges nicht machen können, sie hatte keine Ausbildung, aber sie bekam einen Tipp: Es gebe in den Münchner Mode-Ateliers keine Handschuhe. "Ich habe mir gesagt: Dann mach' ich es halt", ruft Fritsche in den Raum. Es klingt wie das Motto ihres Lebens: Dann mach' ich es halt. "Ich habe also einen Betrieb für Stoffhandschuhe aufgemacht", erzählt sie weiter, "und so bin ich naiv ins Erwachsenenleben hineingestolpert." Der Anfang war schwer. "Ich hatte wenig Geld, und einmal habe ich zur Abendbrotzeit die fertigen Handschuhe abgeliefert, weil ich hoffte, vielleicht ein Käsebrot abzukriegen." Später lief der Handschuh-Betrieb richtig gut. Aus dieser Zeit stammt ihre Liebe zu Händen.

Dann heiratete sie, bekam Kinder, zog in ein Haus mit 5000 Quadratmetern Garten - und begann mit ihren Ehrenämtern. Der Pfarrer der evangelischen Vaterunser-Kirche in Unterföhring fragte sie, ob sie nicht für den Kirchenvorstand kandidieren wolle. "Ich bin die Falsche, ich habe keine Ahnung, ob es die Auferstehung gibt oder nicht", antwortete Fritsche. "Ich habe so wenig mit Kirche zu tun, ich gehöre eher in den Nusskuchenvorstand." Ellen Fritsche streut ihre Witze gerne ansatzlos ins Gespräch.

"Doch, Sie sind die Richtige", habe der Pfarrer geantwortet. Es gebe einige Menschen in der Gemeinde, die eine ähnliche Haltung zum Glauben und zur Auferstehung hätten - diese Menschen könnte sie vertreten. Fritsche kandidierte und wurde gewählt. Und kümmerte sich vorwiegend um die Jugend. Noch heute trifft sie sich mit ihren früheren Schützlingen. Sie sind jetzt 30 Jahre alt oder darüber.

Ellen Fritsche hat Quiche und Muffins auf den Tisch gestellt. Es gibt Limonade dazu. Sie will, dass sich der Gast wohlfühlt, das merkt man. Und sie will, dass man versteht, wie sie ist. "Ich bin neugierig aufs Leben", sagt Ellen Fritsche. "Meine Stärken sind Kreativität und Ideen - der liebe Gott hat uns Begabungen gegeben, und wir sollen daraus etwas machen; das ist mir, finde ich, ganz gut gelungen." Das klingt ein bisschen eitel. Aber sie will sich damit nicht erhöhen, sondern einfach nur beschreiben. Wenn man sie beobachtet, dann stellt man fest, dass sie resolut und quirlig ist, aber wenn man sie mit nur einem einzigen Adjektiv beschreiben müsste, dann wäre das: schlagfertig. Sie hat sehr oft einen Spruch, der passt. Oder eine Antwort, die sitzt.

Sicher hilft das bei ihrer Arbeit mit den Migrantenkindern. Sie betreut 20 Mädchen und Jungen im Alter von sieben bis 14 Jahren. Eigentlich ist sie nur zweimal die Woche dran, aber manchmal springt sie ein, wenn andere verhindert sind. "Momentan bin ich fast täglich dort", sagt sie. "Ich habe die Flüchtlinge nicht gerufen, aber sie sind da, und deshalb kümmere ich mich um sie." Der erste Teil des Satzes klingt hart, aber so ist sie nicht. Sie ist vielleicht manchmal ein bisschen schnoddrig, aber nicht hart. Der zweite Teil des Satzes - das mit dem Kümmern - passt viel besser, um sie zu charakterisieren.

Außerdem hilft sie noch am Servicetelefon der evangelischen Kirche. "Da rufen Menschen an, die ganz allgemeine Fragen haben", sagt sie. Trauung, Beerdigung, Kirchensteuer, Taufe, solche Sachen. "Bei der jüngsten Sitzung ist was Nettes gewesen", erzählt sie. Da habe eine Frau um die 20 angerufen und einen Patenschein gewollt. "Ich freu' mich für Sie", sagte Fritsche - in der Annahme, die Frau sei Mutter geworden. Doch diese antwortete: "Es ist mein Bruder, der getauft wird." Die Mutter der Frau war noch einmal Mutter geworden.

"Eigentlich wollte ich das nur ein Jahr machen", sagt Fritsche über das Servicetelefon. "Aber jetzt sind es schon vier Jahre geworden." Vermutlich ist das schon öfter so gewesen in ihrem Leben. Bei der evangelischen Telefonseelsorge war sie mehr als 30 Jahre. Mit allem, was dazugehört: Suizid-Anrufen in der Nacht, aber auch ganz vielen guten Gesprächen. Geschichten will sie nicht erzählen, die Leute sollen anonym bleiben.

Vor ein paar Jahren hatte Ellen Fritsche eine schwere Operation, sie stellte ihr Leben um und gab die Telefonseelsorge auf. Sie organisierte noch einige Zeit den Flohmarkt der Telefonseelsorge, er hieß "Ellens Flohmarkt" und fand in Schwabing statt; zuletzt hat sie 10 000 Euro eingenommen. Sie ist noch Beiratsvorsitzende der Stiftung der Telefonseelsorge. Und sie war mal im Vorstand des evangelischen Beratungszentrums.

Telefonseelsorge, Beiratsvorsitzende bei der Stiftung, Vorstand beim Beratungszentrum, Hausaufgabenhilfe, Servicetelefon, Kirchenvorstand - was hatte sie denn noch an Ehrenämtern? "Es ist schwer, sie alle zusammenzubringen", sagt sie. Ach ja, sie habe mal eine dreijährige Ausbildung zur Gemeindeberaterin an der Rummelsberger Akademie gemacht, als einzige Ehrenamtliche unter vielen Pfarrerinnen. Danach habe sie Kirchengemeinden beraten - gerade, wenn es um Ehrenamtliche ging. Wie man sie gewinne. Welche Rolle sie spielten. "Ehrenamtliche sollen nicht als kuschende Kaffeekocherinnen dargestellt werden", sagt sie. Tatsächlich hätten Ehrenamtlich viele Vorteile, Fritsche nennt es auch: Freiheiten. "Ich konnte Vorgesetzten ohne Scheu und Angst vor den Folgen ins Gesicht sagen, was mir an ihrer Leitungsart missfällt."

Ellen Fritsche will auf jeden Fall weitermachen mit ihren Ehrenämtern. Auch wegen ihrer Neugier aufs Leben. "Ich war kürzlich bei einem Geburtstag, auf dem ein alter Mann sagte, er habe keine Lust abzukratzen, weil er wissen wolle, wie es hier auf der Erde weitergehe", erzählt sie. "Das kann ich unterschreiben."

Es ist fünf vor Zwei geworden. Ellen Fritsche muss weg. Normalerweise hat sie nur eine Schicht bei der Hausaufgabenhilfe, von 14 bis 15.30 Uhr. Aber heute ist ein Kollege krank, also macht sie zwei Schichten: von 14 bis 17 Uhr. Das ist sicher anstrengend. Warum sie es dennoch macht? "Alle Kinder", sagt sie, "ob Deutsche oder Migranten, sollen bei einer Bewerbung mal die gleichen Chancen haben."

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