Mit den Artikeln ist es am schwierigsten. Heißt es nun "die Vogel", "das Vogel" oder "der Vogel"? Delia schaut sich im hellen Schulungsraum um, überlegt kurz und rennt zum roten Kreis, der an der gegenüberliegenden Wand hängt. "Die" steht mit großen Buchstaben darin. Maxim ist zum blauen Kreis gelaufen, in dem "der" geschrieben steht. Als die Kursleiterin das Rätsel auflöst, springt er vor Freude in die Luft. Und alle acht Kinder rufen zusammen: "der Vogel".
Nach dem Kindergarten kommen Delia und Maxim zusammen mit sechs anderen Kindern jeden Mittwochnachmittag in den Kikus-Sprachunterricht in die Stadtbibliothek im Hasenbergl. Sie alle sind zwischen fünf und sechs Jahre alt. Fast alle wurden in Deutschland geboren. Aber zu Hause sprechen sie noch eine andere Sprache, sei es Türkisch, Spanisch oder Englisch. Bei Kikus holen die Kinder einiges von dem nach, was für ihre Altersgenossen mit deutschen Eltern selbstverständlich ist: Farben, Zahlen, Tiernamen oder eben die verflixten Artikel. "Wenn sie nächstes Jahr eingeschult werden, dann sollen sie möglichst die gleichen Chancen haben", sagt die Kursleiterin Nastra Yonis. Dabei geht es nicht um komplizierte Grammatikregeln. Die lernen sie ohnehin später in der Schule. "Spielerisch üben sie, sich authentisch auf Deutsch auszudrücken. So wie sie es schon in der Sprache ihrer Eltern können."
Unter dem Namen Kikus laufen nicht nur die Sprachkurse im Hasenbergl. Dahinter verbirgt sich eine ganze Lehrmethode. Entstanden ist sie vor 20 Jahren, als eine Sozialpädagogin an einer Münchner Kita verzweifelte. Sie sollte die Kinder auf die Schule vorbereiten, aber die Hälfte der Gruppe sprach so gut wie gar kein Deutsch. Hilfe fand sie bei der Sprachwissenschaftlerin Edgardis Garlin, die damals an der Ludwig-Maximilians-Universität über die Mehrsprachigkeit ihrer eigenen Kinder promovierte. Für die Kita entwickelte Garlin 1998 einen "Deutschkurs für ausländische Kinder", der sich am Alltag der Kinder orientierte. Damals eine Seltenheit.
Der Kurs fruchtete, was sich bald unter den Erziehern auch an anderen Kindergärten herumsprach. Damit auch sie Kurse anbieten konnten, gründete Garlin mit einigen Mitstreitern einen Verein: das Zentrum für kindliche Mehrsprachigkeit (ZKM). Dort wurde Kikus zu einer Lehrmethode für Erzieher, Lehrer und Pädagogen weiterentwickelt, die sich inzwischen in der Deutsch-Förderung etabliert hat. Mittlerweile wird Kikus an 121 Einrichtungen und von fast 3000 Erziehern unterrichtet. Damit dürften in 20 Jahren rund 210 000 Kinder an einem Kikus-Sprachunterricht teilgenommen haben, schätzt das ZKM.
Zurück im Stuhlkreis schlägt Delia einen roten Ordner auf und holt die Hausaufgaben heraus. Ein Blatt, auf dem viele Menschen zu sehen sind: die Mama, der Papa, der Bruder. Unter dem gedruckten Wort Großmutter hat Delia mit ihren Eltern "abuela" geschrieben. Das ist Spanisch, denn ihre Familie kommt aus Peru. "Die Kinder starten nicht bei Null", sagt Yonis. "Sie haben bereits eine Sprache. Darauf bauen wir im Unterricht auf." Dass die Erstsprache der Kinder so stark miteinbezogen wird, ist eine der Besonderheiten von Kikus. Das Programm sieht Mehrsprachigkeit als Bereicherung an und will den "Abschied von der monolingualen Gesellschaft".
Die Forderung hört sich radikal an. Dabei ist sie schon längst Realität: 55 Prozent der Jugendlichen in München haben einen Migrationshintergrund. Im Hasenbergl sind es zwischen 70 und 80 Prozent. Wo das Umfeld sprachlich so heterogen ist, kann man nicht mehr davon ausgehen, dass die Kinder die deutsche Sprache einfach in der Kita oder in der Grundschule aufschnappen. Nur an einer von zehn Grundschulen im Hasenbergl sind Deutsche ohne Migrationshintergrund in der Mehrzahl.
Weil die frühe Deutschförderung im Viertel für die Kinder wichtig ist, finanziert das Bildungslokal Hasenbergl einen Teil des Kurses in der Stadtbibliothek. Damit auch Kinder aus finanziell schwachen Familien am Kurs teilnehmen können - und das sind hier im Hasenbergl alle Teilnehmer - kommt der Großteil des Geldes zusätzlich vom SZ-Adventskalender.
Bevor die Stunde zu Ende geht, bekommt Delia noch ein Blatt mit Hausaufgaben. Die soll sie mit ihren Eltern machen, damit sie sehen, was sie an diesem Tag gelernt hat. Vielleicht kann sie ihnen sogar etwas Neues beibringen. Zum Beispiel, dass zum Vogel das verflixte "der" dazugehört.