Mehr Rauschgiftopfer:Warum Bayern das falsche Rezept in der Drogenpolitik hat

Mehr Rauschgiftopfer: Erinnerungen an traurige Karrieren: Das Totengedenkbuch und Nachrufe auf Drogenopfer im "L 43", dem Kontaktladen der Drogennothilfe.

Erinnerungen an traurige Karrieren: Das Totengedenkbuch und Nachrufe auf Drogenopfer im "L 43", dem Kontaktladen der Drogennothilfe.

(Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Die Zahl der Rauschgiftopfer hat sich in München mehr als verdoppelt: Laut Szenekennern wegen der harten Gangart, mit der die bayerische Politik gegen Junkies vorgeht.
  • Der Drogenbericht der Deutschen Aidshilfe stützt die Theorie, dass die Drogenpolitik Mitschuld trage an der hohen Opferzahl: Zum Beispiel indem sie sich weigert, Fixerstuben einzurichten.

Von Andreas Glas

Hierher also hat ihn das Leben geführt. An einen Ort, an den nur diejenigen kommen, bei denen etwas gewaltig schief gelaufen ist: in einen Hinterhof in Schwabing, ins Café der Suchthilfe Condrobs. Thomas Stiller ist ein alter Mann, obwohl er doch erst Mitte vierzig ist. Faule Zähne, fahle Haut, rote Augen. Er ist seit 30 Jahren süchtig. Er hat erst gekifft, dann Pillen geschmissen, dann angefangen zu spritzen. "Klassische Drogenkarriere", sagt Stiller.

Er wolle die Schuld nicht den anderen geben, nicht seinen Eltern und nicht dem Staat. Er sei eben "ein Stück weit wahnsinnig" gewesen als Teenager, als die Sache mit den Drogen losging. Er sagt aber auch, "dass die Drogenpolitik meinen Wahnsinn tatkräftig unterstützt hat" und diese Politik endlich aufhören müsse. Dass Schluss sein muss, bevor auch noch Nummer 22 abkratzt.

Die Statistik der Polizei kennt keine Namen, keine Gesichter, keine Geschichten. Nur Nummern. Nummer eins ist nachts im Parkhaus krepiert, das neue Jahr war erst drei Tage alt. Nummer zehn haben sie tot auf dem Klo gefunden, in einem Einkaufszentrum. Der bislang Letzte starb am 2. April, ein 23-jähriger Mann aus Landau, er lag tot in der Damentoilette am U-Bahnhof Theresienwiese. "Somit handelt es sich bei dem Verstorbenen um den 21. Rauschgifttoten im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums München im Jahr 2015." heißt es im Pressebericht der Polizei. Was bürokratisch klingt, ist in Wahrheit ein Drama. Denn die Zahl der Drogentoten ist mehr als doppelt so hoch wie zur gleichen Zeit des Vorjahrs.

Warum die Zahlen so drastisch stiegen

Fragt man die Polizei, warum zurzeit so viele Junkies sterben, bekommt man die Erklärung, dass es keine Erklärung gibt. Und dass man hoffe, der Anstieg sei nur Zufall. Wer echte Antworten will, muss einen fragen, der sich besser auskennt als die Polizei, einen wie Thomas Stiller, der eigentlich anders heißt. Er sitzt im hintersten Eck des Condrobs, tief über die Tischplatte gebeugt, links und rechts von ihm dampft es. Links Kaffee, rechts Zigarette.

Mit den Dealern hat er zurzeit nichts zu tun, er ist auf Substitutionstherapie. Aber was in der Szene los ist, das weiß Stiller genau. Er sagt, dass es in München zurzeit "richtig gutes Heroin" gebe und dass die Leute damit nicht umgehen könnten. Das sei "echt gefährlich" und ein Grund für die 20 Todesfälle. Aber längst nicht der einzige, sagt Stiller.

Noch gefährlicher sei die Sache mit dem Fentanyl. Schuld an den vielen Fentanyl-Toten sei auch die Politik, sagt Stiller. Seine Theorie: Weil in Bayern die Strafen für Drogenbesitz besonders hart sind, ist das Risiko für einen Münchner Dealer besonders groß, was wiederum die Marktpreise in die Höhe treibt. Der Dealer berechnet nämlich eine Art Risikozulage, die sich viele Junkies nicht leisten können.

"Das ist totaler Irrsinn"

Also wühlen sie in Mülleimern von Kliniken und Altenheimen und suchen nach gebrauchten Fentanyl-Pflastern, die an Krebspatienten oder gegen Kniebeschwerden verschrieben wurden. Das Medikament ist bis zu 80 Mal stärker als Morphium, die Junkies kochen die Pflaster aus und injizieren sich den ausgelösten Wirkstoff. "Beim Spritzen geht dann auch der Klebstoff mit rein", sagt Stiller, "das ist totaler Irrsinn".

Wie die Politik den Abhängigen helfen könnte

Der Drogenbericht der Deutschen Aidshilfe stützt Stillers Theorie, dass die Drogenpolitik Mitschuld trage an der hohen Opferzahl in München. "Uns erscheint es, als würde die Lücke zwischen dem Wissen über das, was drogenpolitisch wirkt, und dem, was tatsächlich umgesetzt worden ist, immer größer", schreiben die Herausgeber. Was sie damit meinen: Statt die Junkies zu schützen, bleibt die Politik stur bei ihrer harten Linie - und bringt die Abhängigen erst recht in Gefahr.

Zum Beispiel indem sie sich weigert, Fixerstuben einzurichten. Räume, in denen Süchtige unter Aufsicht konsumieren können. Wo Nadeln steril und sauber sind, wo Sozialarbeiter erste Hilfe leisten können. In Berlin und Hamburg gibt es solche Räume, in München verstecken sich Junkies aus Angst vor der Polizei in Parkhäusern und Bahnhofsklos. Geht dann etwas schief beim Spritzen, ist keiner da, der hilft. Tod durch Unterlassung, könnte man sagen. Sinnvolle Prävention, sagt Bernhard Seidenath.

Seidenath ist gesundheitspolitischer Sprecher der CSU-Fraktion im Landtag. Für ihn sind die Fixerstuben "nicht zwingend notwendig", um das Überleben der Junkies zu sichern. Weil er glaubt, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen nicht vorhandenen Konsumräumen und hohen Sterbefällen. Außerdem sei es ein "eklatanter Widerspruch", Drogen einerseits zu verbieten und andererseits Räume einzurichten, in denen Drogenkonsum "erleichtert und geschützt" werde, sagt Seidenath.

Warum "Vertreibungspolitik" nicht die richtige Lösung ist

Ein Denkfehler, sagt dagegen Thomas Stiller: "Man kann Drogensucht weder verbieten noch lösen, indem man Vertreibungspolitik betreibt." Die derzeitige Sterbewelle in München sei ja der beste Beweis dafür. Die Landesregierung sieht das genau andersrum. Konsumräume, sagt Bernhard Seidenath, könnten sogar den Effekt haben, dass manche erst damit anfangen, Drogen zu nehmen.

"Das ist ein blödsinniges, ein weltfremdes Argument", sagt Stiller. "Wenn du mit einem 15-Jährigen so einen Konsumraum besichtigst, verspreche ich dir, dass das keinen Anziehung auf ihn hat. In die Konsumräume kommt niemand, der nicht eh schon ein Problem hat." Und wer ein Problem habe, finde dort Hilfe, könne von den Sozialarbeitern vielleicht sogar zu einer Therapie überredet werden, sagt Stiller.

Ähnlich argumentiert Grünen-Stadträtin Lydia Dietrich: "Der Freistaat muss akzeptieren, dass Drogensucht eine Krankheit ist. Und Krankheiten behandelt man nicht mit Strafen, sondern mit Hilfsangeboten." Dietrich und ihre Fraktion haben im März einen Antrag gestellt, in dem sie Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) darum bitten, sich beim Freistaat für die Genehmigung von Konsumräumen stark zu machen.

Streit um Fixerstuben

Allerdings nur unter der Voraussetzung, "dass es geschützte Räume sind", sagt Dietrich, "denn sobald da die Polizei zur Großrazzia reinrumpelt, geht da keiner mehr hin". Seidenath vertritt dagegen die Meinung, dass Fixerstuben "einhergehen müssten mit Polizeipräsenz". Glaubt Seidenath wirklich, ein Junkie käme freiwillig zur Polizei, um sich filzen zu lassen? Falls ja, wäre es tatsächlich klug, die Konsumräume weiterhin abzulehnen.

Für Seidenath gehen die Fixerstuben sowieso am Problem vorbei. Die Heroinspritze, sagt er, sei heutzutage nicht mehr das große Problem, sondern die Droge Crystal Meth. Und dafür, sagt Seidenath, "braucht man keine Konsumräume, das sind ja Tabletten, die man da schluckt, oder manches wird geraucht". Dass Crystal Meth auch gespritzt wird, weiß Seidenath offenbar nicht. "Aber in München spielt Crystal eh keine so große Rolle", sagt Stiller.

Dass die Politik in Sachen Konsumräumen hart bleibt, könne er sogar ein bisschen verstehen, sagt Stiller: "Wir Süchtigen sind einfach eine Minderheit. Warum sollte man also den ganzen Aufwand betreiben?" Andererseits: Hätte er sich diese eine, verunreinigte Spritze, "diese blöde Nadel" damals in einem Konsumraum verpasst, er hätte sich garantiert nicht mit dem HI-Virus infiziert. "Die Politik sagt: Hör auf, dann passiert dir das gar nicht erst. Aber so einfach", sagt Stiller, "ist es halt nicht".

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