Süddeutsche Zeitung

Harry Klein:Dieser Sound bringt die Organe in Schwingung

Im Harry Klein greifen die dumpfen Beats nach der Bauchdecke, der Rhythmus bestimmt jeden Schritt. Wenn die DJs in dem Club auflegen, geht es nicht nur ums Hören.

Von Stefanie Schwetz

Draußen, im tunnelartigen Zugang, ein paar halblaute, durch Zigarettenschwaden dringende Gesprächsfetzen; im Hintergrund Verkehrsgeräusche der nur wenige Schritte entfernten Sonnenstraße. Drinnen, im Club, von farbig-abstrakten Videoprojektionen begleitete, raumfüllende Beats, die den Besucher unversehens in einen sinnlichen Ausnahmezustand versetzen.

Denn wer sich in die Welt der elektronischen Musik im Münchner "Harry Klein Club" begibt, den erwarten technisch produzierte Klangerzeugnisse, die sich in der Person des Besuchers fortsetzen: Melodisches, das in vielfachen Wiederholungen in die Gehörgänge dringt, gepaart mit schrillen Kaskaden und vibraphonen Klängen. Die dumpfen Beats greifen nach der Bauchdecke. Die Rippenbögen beginnen zu vibrieren, schließlich geraten auch die inneren Organe in Schwingung.

Diese Klänge korrespondieren auf eine überwältigende Weise mit dem Körper, was nicht nur der Lautstärke geschuldet ist. Denn bei den im Clubraum herrschenden 103 Dezibel kann man durchaus noch das eine oder andere Wort wechseln. Hier geht es nicht nur um das Hören, sondern auch um eine taktile Erfahrung von Musik, die den ganzen Körper einschließt, ihn Ton für Ton, Schlag für Schlag mit dem synchronisiert, was er hört.

Allein der Schalldruck und die tiefen Frequenzen der Bässe von ungefähr 60 Hertz haben Einfluss auf das Nervensystem sowie auf Atem- und Herzrhythmus. Wie eine klare Linie zieht sich der Beat über Stunden dahin, umrankt von Soundeffekten, stilistischem Crossover und zitierenden Tonfolgen - ein paar Sekunden, ein paar Takte, in denen sich das Bewusstsein immer mal wiederfindet, bevor sich der Geist im Fortgang dessen verliert, was der elektromusikalische Werkzeugkasten bereitstellt.

Felix Adam ist einer von denen, die solche Sets arrangieren. Kontinuität und Veränderung - das sind die Parameter, unter denen der 24 Jahre alte Soziologie-Student seit zwei Jahren als "DJ Mellowflex" im Harry Klein auflegt und für sein Publikum diese Klangerlebnisse kreiert, die weit über das sinnlich Erfahrbare hinausgehen. "Die Sparten der elektronischen Musik differenzieren sich immer weiter aus", erzählt er. Immer größer werde die Fülle des akustischen Materials, das sich in seinen unbegrenzten Kombinationsmöglichkeiten irgendwann und irgendwo in einem DJ-Set verwirklicht.

Wie ein Raumschiff residiert das Harry Klein mitten in der Münchner Innenstadt, ein auf vier riesigen Federn gelagerter Betonkubus, der in ein entkerntes Rückgebäude an der Sonnenstraße implantiert wurde. Das heißt, dass die Raumakustik, die im Körper des Besuchers mitschwingt, nicht nach außen gelangt. Auch beim Bau der Hamburger Elbphilharmonie sei dieses Stahlfederkonzept zur Anwendung gekommen, erzählt Clubbetreiber David Süß.

Im Keller, außerhalb der Betonglocke, ist von dem Gewummer und den harten Bässen nichts mehr zu hören. In einem Raum, der wie eine Mischung aus Personalzimmer, Getränkelager und Omas Vorratskammer daherkommt, verbringt die Belegschaft ihre Pausen, unterhält sich über Wohnraum, Nachtarbeit und Partnerschaften ohne Trauschein. Gespräche von einer Arglosigkeit sind das, die in keinem Vergleich zu der prallen Klangintensität im darüber liegenden Clubraum stehen.

Das Johlen durchdringt die elektronischen Klangmuster

Dort offenbaren die Wände unter einem dekorativen Sammelsurium aus Kunst und Kitsch den rohen Beton des schalldichten Gehäuses. "Beton macht einen diffusen Sound", erklärt David Süß. Es sei schon eine Wissenschaft für sich, was der Akustiker Christian Becker hier geleistet habe, indem er die Klangarchitektur immer wieder ausbalancierte. Mal mussten die Boxen anders positioniert werden, mal wurde Dämmmaterial installiert, um den Klang zu regulieren.

Mit dem akustischen Niveau der ersten Elektro-Clubs Ende der Achtzigerjahre hat dieser Drang zur Perfektion kaum mehr etwas gemein. Auf dem Dancefloor durchdringt das Johlen der Tanzenden, mit ihren schwingenden und hopsenden Körperteilen, nun die elektronischen Klangmuster - ein Anblick, der gleichermaßen an Kindergeburtstage wie an archaische Stammesrituale erinnert.

Felix Adam steht am Mischpult, bedient die Regler, ist Dirigent und Choreograf zugleich. Vertieft in das, was er über den Kopfhörer hört, ist er akustisch immer einen Schritt voraus, wenn er bis zu vier musikalische Bestandteile gleichzeitig zusammenfügt, wechselnde Tonarten und Rhythmen unmerklich ineinander gleiten lässt. Dabei gilt seine Aufmerksamkeit auch immer dem Publikum. Denn im Vergleich zu einem Instrument, findet Felix Adam, der selbst Schlagzeug spielt, ist für ihn das Mischpult Medium: "Man muss einfach intuitiv auf die Leute eingehen".

Eins-Werden mit dem wogenden Ganzen

Ein Akt beiderseitiger Partizipation sei das, was da zwischen ihm und dem Publikum passiere. Gepaart mit atmosphärischen Faktoren wie Wochentag, Uhrzeit, Raumgefühl, mache das schließlich den ganz speziellen Vibe aus, von dem er sich inspirieren und leiten lässt. Oft habe er sich gefragt, ob das, was er betreibt, eher Interpretation oder Komposition sei. Mittlerweile ist es für ihn eine Mischung von beidem - wie bei einem Orchester, das bereits existierende Stücke in konzertanter Einmaligkeit immer wieder neu interpretiert.

Und in der Tat haben all die rhythmischen, melodischen und geräuschvollen Einzelteile, die Felix Adam auf elektronische Weise zusammenfügt, etwas Orchestrales, das in seiner unwiederbringlichen Präsenz den Körper durchdringt und ihn eins werden lässt mit dem wogenden Ganzen. Ein höchst intimes Verhältnis zwischen Technologie, Physiologie und Psychologie - irdisch und sphärisch zugleich.

Wie eine Brücke zwischen Himmel und Erde schwingt dieses Sounderlebnis durch die Nacht, dehnt sich aus in Raum und Zeit, während sich der pulsierende Körper im Morgengrauen nach Hause bewegt. Denn da ist immer noch dieser Rhythmus, der jeden Schritt bestimmt. Und da ist der Nachklang einer Tonspur, die sich in einer Endlosschleife durch den Schädel zieht und mit dem einsetzenden Vogelgezwitscher zu einer inneren Klangcollage verdichtet.

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Quelle:
SZ vom 19.08.2016/amm
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