Süddeutsche Zeitung

Buchvorstellung im Literaturhaus:Das Schicksal der Opfer interessierte keinen

Hans Woller arbeitet in seinem Buch "Jagdszenen aus Niederthann" nicht nur einen Kriminalfall aus dem Jahr 1972 auf, sondern verdeutlicht, wie tief verwurzelt die Ressentiments gegen Sinti und Roma in unserer Gesellschaft sind.

Von Sabine Reithmaier

Vielleicht war es eine mit Faszination gemischte Urangst vor "Zigeunern", ererbt von Mutter und Großmutter, die Hans Woller bewogen hat, die "Jagdszenen aus Niederthann" zu schreiben, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Martin Sperrs Volkstück "Jagdszenen aus Niederbayern" (1966), in dem es um das Schicksal eines homosexuellen Außenseiters in einer verlogenen Dorfgemeinschaft geht. Vielleicht verleitete Woller aber auch die Affinität zu den "Abgründen der bayerischen Provinz", aus der er stammt, eine Art Vergangenheitsbewältigung in eigener Sache also.

Ganz genau weiß der Historiker nicht, warum ihn der SZ-Artikel aus dem Jahr 1972 über den "Zigeuner-Krieg" in Niederthann, auf den er während einer anderen Recherche stieß, so elektrisierte. Jedenfalls beschloss er, der Sache nachzugehen. Entstanden ist ein fabelhaftes Buch über Antiziganismus, nüchtern, klar und immens spannend geschrieben, das dem Leser unentwegt verdeutlicht, wie tief verwurzelt die Ressentiments gegen Sinti und Roma in unserer Gesellschaft sind.

Das "Lehrstück über Rassismus", so der Untertitel, setzt am Nachmittag des 5. November 1972 ein. Nachmittags gegen 15 Uhr tauchen fünf junge Romnja in Niederthann auf, einem kleinen Dorf in der Nähe von Pfaffenhofen. Sie wollen Lebensmittel für ihre Leute kaufen, Geld haben sie dabei. Als in einem Bauernhof am Ortsrand die Haustür offensteht, betreten die Fünf das Haus, steigen die Treppen hoch bis zum Dachboden. Und ergreifen sofort die Flucht, als die Bauernfamilie die Eindringlinge bemerkt. Den drei jüngeren gelingt es, das Haus unbeschadet zu verlassen. Im Gegensatz zu den beiden anderen, denen der angetrunkene Bauer hinterherschießt. Er tötet mit zwei Schüssen die 18-jährige schwangere Anka Denisov und verletzt mit zwei weiteren die 16-jährige Milena Ivanov schwer.

Woller fächert diesen Kriminalfall in vielen Facetten auf, beleuchtet die Begleitumstände, analysiert die Folgen bis in die Gegenwart. Sinti und Roma Zigeuner zu nennen, war in den Siebzigerjahren quer durch alle Schichten und Medien eine Selbstverständlichkeit. Die Polizei stellt sich nach der Tat auf die Seite des Todesschützen - Woller gibt ihm den fiktiven Namen Max Brunnwieser - und verhaftet die unverletzten Mädchen, zehn, 14 und 15 Jahre alt. Statt den Täter festzunehmen, bringt sie ihn und seine Familie zum Schutz vor der rachsüchtigen "Zigeunersippe" auf dem Hof seiner Schwägerin im benachbarten Aufham unter, verunsichert die Bevölkerung mit ihren Vermutungen über eine mögliche Blutrache. Erst am Tag darauf nehmen die Polizisten Brunnwieser auf Drängen der Staatsanwaltschaft in München fest.

Das Dorf stellt sich geschlossen auf die Seite ihres Mitbürgers. Für die Einwohner ist klar, dass Brunnwieser nur seine Familie und den Hof verteidigt hat. Vermutlich gab es auch damals Menschen, die darüber nachdachten, dass der Landwirt auf flüchtende Mädchen geschossen hatte, von Notwehr also keine Rede sein konnte. Doch die Skeptiker, die solche Überlegungen anstellten, behielten ihre Zweifel für sich, schreibt Woller. "Exponieren wollte sich keiner."

Dank Spendenaktionen und Tombolas konnte sich der Landwirt drei Spitzenanwälte leisten

Für das Schicksal der Romnja interessierte sich keiner, weder die örtlichen Pfarrer noch die Politiker, die sich ausschließlich für das bis dahin unbescholtene CSU-Mitglied einsetzten. Sowohl Bürgermeister als auch Landrat, beide CSU, organisierten Spendenaktionen und Tombolas, um die Familie zu unterstützen. Sogar der Roider Jackl, der sonst so kritische Volkssänger, trat zugunsten der Familie auf, spendete seine Gage den Brunnwiesers. Der Landwirt jedenfalls konnte sich drei Spitzenanwälte leisten, darunter Erich Schmidt-Leichner, der wenige Jahre zuvor SS-Größen verteidigt hatte und nicht davor zurückschreckte, die Angehörigen Anka Denisovs übelst zu verunglimpfen.

Brunnwieser wurde 1974 zu sieben Jahre Gefängnis wegen Totschlags verurteilt, sehr zur Empörung seiner wütenden Mitbürger, die die Strafe als viel zu hoch empfanden. In der Revision verkürzte das Gericht die Strafe auf drei Jahre. Doch nach eineinhalb Jahren wurde der Bauer nach einer Intervention von Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann freigelassen.

Kein Geld, keine Unterstützung erhielt dagegen die Familie der getöteten Anka Denisov. Sie hinterließ einen Mann und zwei Söhne, damals zwölf Monate und drei Jahre alt. Daran konnte auch Staranwalt Rolf Bossi, der als Nebenkläger die Interessen der Roma vertrat, nichts ändern. Bei Brunnwieser, den er aufforderte, als Zeichen seiner Reue die Begräbniskosten zu übernehmen, biss er auf Granit. Dass Bossi Sinti und Roma als Klienten vertrat - und auch während des Prozesses auf die Verfolgung derselben während der Diktatur der Nationalsozialisten hinwies - hängt mit seiner Lebensgeschichte zusammen: Sein Vater, ein naturalisierter Italiener, war von den Nazis wegen Wehrkraftzersetzung hingerichtet worden.

Bossis Versuche, Entschädigung für die Familie der Toten zu erstreiten, scheiterten an zynisch anmutenden Spitzfindigkeiten: Anka und ihr Mann waren nicht nach deutschem Recht verheiratet, sondern nur nach "Zigeunerart". Daher existierten weder eine Heiratsurkunde noch die Geburtsurkunden der Kinder. Die Angehörigen gingen bis heute leer aus.

Woller ist es gelungen, zu Nedelko Slavic, dem älteren, inzwischen in den Niederlanden lebenden Sohn von Anka Denisov Kontakt aufzunehmen. Dessen Leben war kein besonders glückliches; Slavic erzählte Woller von Beschimpfungen, Diskriminierungen, Zurücksetzungen, die er zeitlebens erlebt hat - nicht nur in Deutschland. "Sinti und Roma begegnen auch heute noch fast überall einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Ablehnung und offener Feindseligkeit", schreibt Woller, trotz aller Fortschritte, die der Historiker ebenfalls darstellt. Aber immer noch belegen Untersuchungen die negativen Einstellungen gegenüber den in Deutschland als nationale Minderheit anerkannten Sinti und Roma. Immerhin glaubt Nedelko Slavic, dass die Zukunft für seine Kinder und Enkelkinder besser aussieht, als es sein Leben war. Hoffentlich behält er recht.

Jagdszenen aus Niederthann. Ein Lehrstück über Rassismus (C.H. Beck Verlag). Autor Hans Woller im Gespräch mit Radoslav Ganev. Mittwoch, 1.2., 19 Uhr, Literaturhaus München (Saal)

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