Hans-Jochen Vogel wird 85:"In meinem Alter rücken die ewigen Dinge näher"

Der langjährige SPD-Spitzenpolitiker Hans-Jochen Vogel wird 85 Jahre alt. Ein Gespräch über den Sohn von Helmut Kohl, die Frauenquote und den Herrgott.

Susanne Höll und Heribert Prantl

Er war, das hat er ausgerechnet, 4444 Tage lang Oberbürgermeister von München, Regierender Bürgermeister in Berlin, Bundesjustizminister, Kanzlerkandidat der SPD, Parteichef - und ist immer ein Mann von knorriger Vorbildlichkeit geblieben. Er arbeitete mit pedantischer Lust, bürokratischer Genialität und elitärem Anspruch. "Der Mann ist ein Vulkan", hat einst ein Wahlkampfmanager gesagt. Er dampft immer noch. An diesem Donnerstag wird Hans-Jochen Vogel 85 Jahre alt.

Hans-Jochen Vogel wird 85: Hans-Jochen Vogel: Seine Frau Liselotte lässt ihn gut ausschauen.

Hans-Jochen Vogel: Seine Frau Liselotte lässt ihn gut ausschauen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

SZ: Herr Vogel, im Jahr 1919, also sieben Jahre vor Ihrem Geburtsjahr, hat Max Weber seinen Vortrag über "Politik als Beruf" gehalten. Darin steht der berühmte Satz: Politik bedeute das "Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich". Finden Sie sich und Ihr Berufsleben in diesem Satz wieder? Welche Bretter haben Sie gebohrt?

Hans-Jochen Vogel: Ich kannte und kenne die Aufwallung der Gefühle, bei der sich meine Gesichtsfarbe zunehmend rötet. Aber Augenmaß und Beständigkeit bremsen mich dankenswerterweise in solchen Momenten. Und die dicken Bretter? Ich gebe zu, ich habe auch dünne Bretter gebohrt. Politiker, die nur dicke Bretter bohren, gibt es kaum.

SZ: Muss man sich schämen, wenn man dünne Bretter bohrt?

Vogel: Keineswegs. Zumal in der Zeit, als ich Kommunalpolitiker war, war das nötig und wichtig. Politik ist wie ein Haus: Man braucht dicke Bretter, aber auch allerlei dünne.

SZ: Hatten Sie je das Gefühl, die Politik frisst Sie auf?

Vogel: Oh ja, immer wieder.

SZ: Und was haben Sie dann getan?

Vogel: Meist hat mich dann meine Frau gemahnt, innezuhalten, manchmal sehr nachdrücklich. Ich selbst habe mich in solchen Situationen auch an den wunderschönen Satz von Papst Johannes XXIII. erinnert: "Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!" und ihn auf mich angewandt. Der Urlaub war in solchen Zeiten besonders wichtig. Oder der Versuch, einmal einen ganzen Sonntag lang abzuschalten.

SZ: Können Sie das wirklich?

Vogel: Ganz gelungen ist mir das nie.

SZ: Wenn man sich von der Politik auffressen lässt - wer zahlt den Preis? Der Politiker selbst oder seine Familie?

Vogel: Beide zahlen, aber die Familie vor allem. Ich bin zum zweiten Mal verheiratet. Das Ende meiner ersten Ehe hat sicher auch mit diesem Preis zu tun.

SZ: Walter Kohl, der Sohn von Helmut Kohl, hat das Leiden an seinem Vater in einem Buch beschrieben. Es ist die Geschichte einer fürchterlichen Entfremdung.

Vogel: Was ich gelesen habe, ist nicht unfair gegenüber Helmut Kohl. Aber insgesamt ist mir der Gedanke fremd, solch eine Familiengeschichte der Öffentlichkeit darzulegen. Auch der Sohn von Walter Jens hat ein Buch über seinen Vater geschrieben. Ich frage mich: warum?

SZ: Sie finden das indiskret?

Vogel: Das macht man nicht. Es widerspricht meinen Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen.

SZ: Töchter dürften so schreiben?

Vogel: Ob Sohn oder Tochter, es geht um die Privatheit der Familie, die auch dann eine Rolle gespielt hätte, wenn etwa Helmut Kohl auf den Gedanken gekommen wäre, um seiner politischen Karriere willen das Positive seines Familienlebens öffentlich zu machen. Muss dann der Sohn das Negative berichten? Wenn das Buch Walter Kohls ein Ratschlag an andere Politikerfamilien wäre, auf Untiefen zu achten, hätte es bei aller Bedenklichkeit doch einen gewissen Sinn.

"Es ist gut, dass ein Abzug näherrückt"

SZ: Wundern Sie sich über die Freizügigkeit, mit der Politiker heutzutage Einblick in ihr Privatleben geben?

Hans-Jochen Vogel wird 85: "Mehr Volksentscheide, mehr Volksbefragungen: Macht es, macht es endlich!" Hans-Jochen Vogel

"Mehr Volksentscheide, mehr Volksbefragungen: Macht es, macht es endlich!" Hans-Jochen Vogel

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Vogel: Ja. Für mich war der Schutz meines privaten Bereichs immer sehr wichtig. Bei vielen Politikern heute ist das anders. Sie glauben, mit solchen Präsentationen ihren Bekanntheitsgrad zu verbessern. Aber auch der Eifer der Medien, insbesondere des Boulevards, Höchstpersönliches zu veröffentlichen, ist gewachsen. Ich bin da sehr allergisch.

SZ: Sind Sie auch allergisch, wenn Politiker, es waren jüngst Ministerpräsidenten der CDU, plötzlich sagen, sie hätten keine Lust mehr und zurücktreten?

Vogel: Ja. Jedenfalls dann, wenn man bei der jeweils letzten Wahl einen solchen Rücktritt nicht angekündigt hat. Das gebietet die Ehrlichkeit gegenüber den Wählern. Früher gab es solche Fälle kaum. Eine solche Welle von Ministerpräsidenten-Rücktritten wie in der jüngsten Zeit haben wir in Deutschland noch nie erlebt.

SZ: Für Sie ist Politik nicht nur Beruf, sondern Berufung?

Vogel: Als ich zurückkehrte aus der Kriegsgefangenschaft, mussten wir uns erst einmal ums Überleben kümmern. Das war das Erste. Und dann kam das Engagement für die Politik; nach den furchtbaren Verbrechen der Nationalsozialisten musste das Gemeinwesen wieder zum Leben erweckt werden. Das persönliche Überleben und das Leben des Gemeinwesens - beides war existentiell.

SZ: Sie sagen, Sie seien ein Pflichtmensch. Hat ein Politiker, der einen Weltkrieg erlebt hat, ein anderes Pflichtgefühl als die Generation der Friedenskinder?

Vogel: Ich denke nicht, dass ich mich ohne meine Erfahrungen als Frontsoldat politisch so engagiert hätte. Ich habe Menschen neben mir sterben sehen. Und bald nach 1945 sind mir die furchtbaren Verbrechen bewusst geworden, die auch ganz normale Deutsche begangen haben. Aber man kann späteren Generationen nicht vorwerfen, dass sie weder Nationalsozialismus noch Krieg erlebt haben. Es ist doch ein wahres Glück, dass dies den später Geborenen erspart blieb.

SZ: Manchen bleibt es nicht erspart. Deutsche Soldaten sind in Afghanistan im Krieg.

Vogel: Aber doch nicht, um sie im Leid zu erproben.

SZ: Sie gehören zur Generation, die "Nie wieder Krieg" sagte. Doch Ihre Partei schickt die Bundeswehr in Kämpfe. Auslandseinsätze deutscher Soldaten waren bis in die achtziger Jahre undenkbar.

Vogel: Ich habe auch als SPD-Vorsitzender immer gesagt, dort wo deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren, dürfen sie kein weiteres Mal mehr sein. Beim Kosovo-Einsatz hat mich gleichwohl am Ende das Argument überzeugt, dass man auch ohne Mandat der Vereinten Nationen massenhafte Vertreibungen und Morde, zumal in der näheren Nachbarschaft, nicht zulassen darf. Das war nicht einfach für mich, aber es gibt ja auch das christliche Hilfsgebot.

SZ: Und der Afghanistan-Einsatz?

Vogel: Es ist gut, dass ein Abzug näherrückt. Ich bin längst nicht mehr so sicher wie früher, dass wir westlichen Demokratien unsere Strukturen anderen Staaten auferlegen müssen. Aber wir können nicht sagen, wir müssen raus aus Afghanistan, wurscht, was passiert. Der Gedanke, dass man das Land verlässt, ohne dass leidlich Sicherheit herrscht, wäre ein Triumph für die Taliban.

SZ: Wenn wir über Pflicht und Pflichtgefühl der Politiker reden: Wie beurteilen Sie in diesem Licht den Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler?

Vogel: Seine Amtsführung kann ich nicht tadeln, eine gewisse Politikferne hat ihn beliebt gemacht. Er kannte sich aus, in der Afrika-Politik und auf den Finanzmärkten, hat mit dem Satz, es gelte, die Monster zu zähmen, harte und richtige Worte gefunden. Aber der Rücktritt lässt mich noch heute ratlos. Er hatte doch noch ein Jahr zuvor für die volle Amtszeit von fünf Jahren kandidiert.

SZ: Sie haben oft gesagt, man predige mit seinem Leben mehr als mit Worten. Wenn Sie die heutige Politikergeneration an diesem Maßstab messen, zu welchem Urteil kommen Sie dann?

Vogel: In meiner Zeit als Oberbürgermeister Münchens bin ich selbstverständlich mit der Straßenbahn gefahren. Zwischendurch ging es nicht, aus Sicherheitsgründen. Heute tue ich es wieder. Einer meiner politischen Kollegen hat das U-Bahn-Fahren vier Wochen vor der Wahl begonnen. Das meine ich mit Lebensführung. Aber ich hör jetzt auf, damit...

SZ: ...damit Sie sich nicht den Vorwurf einhandeln, Sie kokettierten mit Ihrer Bescheidenheit?

Vogel: Ich hör jetzt auf.

SZ: Sie waren Ihr Leben lang Sozialdemokrat. Können Sie sich rückblickend auch vorstellen, dass Sie in einer anderen Partei gewirkt hätten?

Vogel: Nein. Auf dem Höhepunkt meiner Auseinandersetzungen mit der Parteilinken in München habe ich zwar für einen Moment daran gedacht, mit der Politik aufzuhören. Aber die SPD zu verlassen - nie.

SZ: Wie geht es Ihnen mit der SPD von heute?

Vogel: Dass die SPD bei der Bundestagswahl 2009 nur 23 Prozent erreichte, hat mich tief erschüttert. Ich saß hier vor dem Fernseher und es hat weh getan. Aber solche Gefühle kann man nicht ewig hegen. Der Vorsitzende Sigmar Gabriel und erst recht Frank-Walter Steinmeier sind nicht der Versuchung erlegen, alles zu verwerfen, was die SPD in Regierungszeiten vertreten hat. Gabriel hat mit großem Geschick die Regierungspolitik der SPD und die neue SPD-Oppositionspolitik ausbalanciert - beim Thema Afghanistan, auch bei der Rente mit 67. Als alter, auch leidgeprüfter Sozialdemokrat schaue ich nun sehr zuversichtlich ins Wahljahr 2011: Wenn die SPD demnächst in Hamburg gut abschneidet, wird das auch Kurt Beck in Rheinland-Pfalz helfen.

SZ: Es geht dort darum, ob die SPD und Beck sich an der Macht halten können. Ihr Bruder Bernhard, der ehemalige CDU-Ministerpräsident in Mainz, hat einstmals, als er nach bitteren Kämpfen innerhalb der CDU als Landesvorsitzender abgewählt wurde, den Satz gerufen: "Gott schütze Rheinland-Pfalz".

Vogel: Und das hat er ja auch getan. Denn es hat dann nicht mehr lange gedauert, bis dort die SPD an die Regierung kam. Und sie wird, mit etwas Glück, weiter dort bleiben. Das Wichtigste ist für mich aber, dass sie sich an ihren Grundwerten, an vorderster Stelle der sozialen Gerechtigkeit, orientiert.

SZ: Raten Sie Ihrer Partei, die soziale Gerechtigkeit wieder ernster zu nehmen?

Vogel: Ja. Besonders in einem ganz konkreten Punkt. Ich bin für die Wiedereinführung der Vermögensteuer, um die Schere zwischen Arm und Reich etwas zu schließen.

SZ: Weitere Ratschläge?

Vogel: Ach wissen Sie, mit Ratschlägen ist das so eine Sache. Aber ich freue mich, dass Gabriel und die SPD die unmittelbare Bürgerbeteiligung stärken wollen. Für Volksentscheide und Befragungen habe ich mich schon in der Verfassungskommission nach der deutschen Einheit vergeblich eingesetzt. Wir hätten dafür die Zustimmung der Union gebraucht. Damals, 1990, hatten wir sie nicht. Aber nachdem auch der ehemalige CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber öffentlich erklärt hat, sein damaliger Widerstand sei ein Irrtum gewesen, kann ich nur sagen: Macht es, macht es endlich!

SZ: Und was ist mit Frauenquoten in Unternehmen?

Vogel: Die SPD hat die Frauenquote in meiner relativ kurzen Amtszeit als Parteivorsitzender eingeführt. Zu Recht; und die Quote war erfolgreich. Sie taugt auch für Aufsichtsräte und Vorstände, sie wird die Arbeit dort befruchten. Wir brauchen die Erfahrungen der Frauen, es sind wichtige Erfahrungen!

SZ: Wie verhält es sich mit Ihren persönlichen Erfahrungen? Sie haben in Ihrem politischen Leben viele Niederlagen erlitten - als Regierender Bürgermeister von Berlin gegen Richard von Weizsäcker, als SPD-Kanzlerkandidat gegen Helmut Kohl. Sind Sie manchmal bitter deswegen?

Vogel: Wie kommen Sie darauf, sehe ich so aus? Ich bin zufrieden und meinem Herrgott dankbar, dass ich beitragen durfte zu der Erfolgsgeschichte dieser Bundesrepublik. Wenn uns 1945 jemand diese Entwicklung vorhergesagt hätte, er wäre für verrückt erklärt worden. Wir brauchen mehr Zufriedenheit in diesem Land: nicht als Polster zum Ausruhen, sondern um aus einem Klima der Verdrießlichkeit herauszukommen und Zuversicht zu schöpfen. Es wird viel zu viel kritisiert in der Politik, aber auch in den Medien. Sie wären glaubwürdiger, wenn sie gelegentlich - von Nachrufen und Geburtstagsartikeln abgesehen - auch das Gelungene wertschätzten.

SZ: Sie reden nicht selten von Gott, vom "Herrgott", wie Sie gern sagen.

Vogel: In meinem Alter rücken einem die ewigen Dinge näher. Aber der Herrgott und der Glaube waren immer wichtig in meinem Leben. In entscheidenden Situationen hat mir dieser Glaube Halt und Zuversicht gegeben.

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