Das Kloster blieb Claudia Gallmeier-Hagl erspart. Und zwar in jeder Hinsicht. Sie hätte ja nicht gleich als Ordensschwester hinter hohe Mauern ziehen müssen, nur um ihrem Beruf nachzugehen. Die Möglichkeit wäre auch gewesen, es wie ihre Mutter Rosa zu machen. Die heute 81-Jährige zog auf Anraten eines Monsignore, der ihr Talent entdeckt hatte, als junges Mädchen in ihren Lehrjahren in Südtirol von Kloster zu Kloster, um von den Schwestern die über Jahrhunderte tradierte Handwerkskunst der Handstickerei zu erlernen. Ihre Tochter Claudia schaute sich stattdessen zu Hause von ihrer Mutter ab, wie man Messgewänder, Taufkleidchen und auch Trachten kunstvoll verziert.
Heute ist Claudia Gallmeier-Hagl, 41, in der in Haar ansässigen Paramenten- und Fahnenstickerei die Chefin und hält ein Handwerk hoch, das mancher für überholt hält. Paramenten sind die in der Liturgie verwendeten Gewänder, die Klosterschwestern in mühevoller Arbeit mit Stickereien verzierten. Doch die Pfarrer werden weniger und Stickmaschinen fertigen heute in Minuten, wofür sich früher einer tagelang über ein Gewand beugen musste. Claudia Gallmeier-Hagl stickt heute noch mühsam mit Nadel und Faden und kennt die erstaunten Nachfragen: "Was machst du da?"
Sie hat mit vier Jahren ihr erstes kleines Deckchen bestickt. Als junges Mädchen half sie ihrer Mutter bei deren Arbeit und träumte nebenbei davon, Tänzerin zu werden. Doch sie beschloss, die Stickerei weiter zu betreiben und trat mit 19 Jahren in einer der wenigen existierenden Handstickereien in Engelsberg bei Garching an der Alz die Lehre an. In der Berufsschule in Münchberg in Oberfranken, einer Stadt mit langer Tradition in der Textilfabrikation, war sie damals eine von fünf Lehrlingen aus ganz Bayern in einer Klasse, darunter auch einige Maschinensticker. 2001 machte Gallmeier den Meister, nicht ohne auch künstlerisch Ambitionen zu entwickeln, wobei ihr Anemone Schneck-Steidl zum Vorbild wurde, die die seit der Antike praktizierte Kunst des "Malens mit Nadeln" mit ihren Porträtbildern zu neuer Blüte brachte. Claudia Gallmeier-Hagl stickte als Meisterstück ein Stillleben mit Obst und Wein. 42 unterschiedliche Techniken wendete sie da an. Das meiste, sagt sie, "habe ich trotz allem bei meiner Mutter gelernt".
In ihrem Reihenhaus in Haar hat sie sich in einem lichtdurchfluteten Wintergartenanbau ganz unkompliziert "Werkstatt und Büro" eingerichtet. Dort geht es eng zu. Kartons mit alten, seltenen Stoffen stapeln sich, Stoffrollen liegen am Boden, auf dem Tisch türmen sich Fadenrollen, Schnittmuster und Zeitschriften. Auf dem Fensterbrett liegt die aus dem Jahr 1919 stammende Fahne des Krieger- und Soldatenvereins Adelshofen bei Fürstenfeldbruck, die Gallmeier-Hagl restaurieren soll. Derzeit bearbeitet sie ein besonders filigranes Stück. Auf einem runden, hölzernen Stickrahmen ist es aufgezogen. Sie bestickt eine Schulterklappe einer Majors-Uniform der luxemburgischen Armee. Mit hauchdünnem Goldfaden stickt Gallmeier-Hagl ein "H" auf rotem Grund und darüber eine fünfarmige Krone. Mit Messgewändern alleine lässt sich der Betrieb jedenfalls nicht mehr führen, wobei sie einige auf einem Kleiderständer hängen hat, fertig zum Verkauf. "Ich nehme alles an", sagt Gallmeier-Hagl, die sich freilich über Arbeit nicht beklagen kann. Drei Monate Wartezeit muss man bei ihr schon einrechnen. Außer ihr gibt es in Oberbayern kaum noch Handstickereien. An jemanden, der den Meister gemacht habe, kann sie sich nicht erinnern.
An den ungewöhnlichen Auftrag aus Luxemburg kam Claudia Gallmeier-Hagl wie an ihre anderen Aufträge auch. Es läuft einfach übers Internet. Ein Artikel in einer Fachzeitschrift über ihre Stickerei wurde in Luxemburg gelesen. Dann kam eine E-Mail und der Job war vereinbart. Gallmeier-Hagl hat für eine in Amerika lebende Gräfin Initialen in deren Kleidungsstücke gestickt und für reiche Unternehmerfamilien, die außer über ein Schloss auch über eine Schlosskapelle mit verschlissenen Messgewändern verfügen, Textilien restauriert. In dem lichtdurchfluteten Wintergarten teilt sie sich ihre Stunden nach dem Stand der Sonne ein. Sobald der Mann in der Arbeit ist und der dreijährige Sohn im Kindergarten oder bei der Oma, legt sie los.
"Jedes Stück ist eine neue Herausforderung", sagt Claudia Gallmeier-Hagl. Sie musste auch erst testen, wie sie mit Goldfaden die Krone auf den Majorsrock aus Luxemburg fabrizieren könnte. Sie muss immer nach Lösungen suchen. Passt jetzt der Samenstich, der Sandstich, der Stielstich oder der Ziegelstich am besten? Was für ein Stoff bietet sich für die Restaurierung der Fahne an? Wie lässt sich das Leder der Lederhose mit der Nadel bearbeiten? Und wie behandelt man ein Taufkleid aus dem Jahr 1833. Auch so etwas bekommt Gallmeier-Hagl in die Hand.
Es ist manchmal eine mühsame Arbeit. Acht Stunden sitzt die Handstickerin, nur um eine Rosenblüte zu sticken. Aus dem Kleinen erwächst in ihrem Beruf das Große. "Der Blattstich verhält sich wie in der Physik das einzelne Atom zum Ganzen", sagt Claudia Gallmeier-Hagl, die trotz der gebückten Arbeitshaltung Verspannungen angeblich nicht kennt. Vielleicht bleibt sie locker, weil sie oft Schwimmen geht. Vielleicht ist es aber auch viel einfacher. Claudia Gallmeier-Hagl gefällt ein Vergleich: Sticken, so sagte mal jemand zu ihr, sei wie Meditieren.