Dem Thema "Neue Welten" widmet sich das April-Heft der Straßenzeitung Biss. Doch in dem Blatt, das von diesem Freitag an die rund 100 Straßenverkäufer an ihren Standplätzen verkaufen, finden die Leser auch drei Seiten, die sich mit einer alten, für Biss unerfreulichen Geschichte beschäftigen: Gegen das Zeitungsprojekt, das sich seit 1993 um "Bürger in sozialen Schwierigkeiten" kümmert, hatte vor mehr als zwei Jahren ein ehemaliger Verkäufer schwere Anschuldigungen erhoben. Er erstattete Anzeige und warf dem Verein vor, dass Mitarbeiter etwa zu Weihnachten Geld bar auf die Hand erhalten hätten, unversteuert also.
Bereits Ende Oktober 2016 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Steuerhinterziehung gegen Biss-Chefin Karin Lohr ein - die Anschuldigungen hatten sich als haltlos erwiesen. Damit wollten es die Biss-Leute bewenden lassen, auf eine Anzeige wegen übler Nachrede hatten sie verzichtet, um dem Mann nicht das zu bieten, "was er mit seinem Verhalten erreichen wollte: Aufmerksamkeit", wie Lohr betont. Sie hatte von Anfang an erklärt, dass es bei Biss nichts zu beanstanden gebe.
Nach reiflicher Überlegung hat Lohr im neuen Heft nun doch noch einmal Stellung bezogen ("Radikal sozial - der Verein Biss e.V. in München"). Denn sucht man bei Google nach Biss, wird ganz weit oben ein SZ-Artikel gelistet: "Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Straßenzeitung Biss". Das kann einen falschen Eindruck erwecken. Denn nur wer den Artikel von Anfang 2016 auch aufruft und durchliest, erfährt, dass es nach damaligem Stand völlig offen war, ob die Vorwürfe stimmen, die Karin Lohr sofort zurückgewiesen hatte. Inzwischen ist Biss durch die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft vollständig rehabilitiert. Dass es nichts zu beanstanden gebe, hatte auch schon das Gutachten eines renommierten Sozialrechtlers belegt.
Biss-Verkäufer erhalten die Hälfte des Heftpreises, also 1,10 Euro von 2,20 Euro. "Die Straßenzeitung zu verkaufen ist ein niedrigschwelliges Hilfeangebot, mit dem insbesondere Menschen erreicht werden sollen, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind", sagt Lohr. Dabei handelt es sich nicht um ein Arbeitsverhältnis, sondern die Beschäftigung ähnelt der "Hilfe zur Arbeit", wie sie beispielsweise Ein-Euro-Jobs für Hartz-IV-Bezieher bieten sollen. "Der Verkäufer entscheidet selbst, wie viele Exemplare er an welchen Plätzen und Tagen verkaufen will", erklärt Lohr. "Die Tätigkeit bringt Struktur in den Alltag und soziale Kontakte zu anderen Menschen." Der Verkauf trägt dazu bei, hilfsbedürftige Menschen, vor allem Obdachlose, wieder zu stabilisieren und sie in die Lage zu versetzen, weitere Hilfen anzunehmen, sich um ihre Gesundheit zu kümmern, Schuldenprobleme zu lösen und das Leben auf der Straße zu beenden.
"Es dreht sich alles darum, arme Menschen einen Schritt vorwärts zu bringen", sagt Biss-Sozialarbeiter Johannes Denninger. Wo immer es möglich ist, versuche man freie Verkäufer deshalb in feste Arbeit zu bringen, vom 1. April an werden es nun sogar 53 festangestellte Verkäufer sein. Sie erhalten "eine Festvergütung, zahlen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge und haben wie andere Angestellte Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und bezahlte Urlaubstage", erklärt Lohr. Die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses sei auf den Einzelnen zugeschnitten. "Die Menschen können bis zum Tod bei uns bleiben", sagt Denninger.
Weil viele auch die Frage nach dem Danach beschäftigte, verfügt Biss inzwischen über eine eigene Grabstätte, in der elf Verkäufer ihre letzte Ruhe fanden. Als gemeinnütziger und mildtätiger Verein unterstützt Biss e.V. bedürftige Menschen mit Zuwendungen - etwa wenn es um Kosten für Medikamente oder Zahnersatz geht, Sprachkurse oder Fahrkarten, auch ein kleines Geldgeschenk zum Geburtstag gehört dazu. Die Zuwendungen bleiben, wie Einzelfallhilfen von der freien Wohlfahrtspflege, ohne Anrechnung auf Sozialleistungen wie Hartz IV. Solche Zuwendungen sind, da sie ohne Gegenleistung und Verpflichtung erfolgen, auch bei den festangestellten Verkäufern nicht als Arbeitseinkommen zu versteuern.
Obwohl nun die möglicherweise auf Missverständnissen beruhenden Anschuldigungen ausgeräumt sind, habe man alle Abläufe noch einmal überprüft, sagt Denninger: "Wir haben am System nichts ändern müssen, wir haben nur Feinjustierungen vorgenommen." Dennoch wolle man die Arbeit von Biss noch transparenter machen. Als Erfahrung bleibe, dass man sich fast nicht wehren könne, wenn jemand Anschuldigungen erhebt, "der überall Probleme hinterlassen hat, wo er war". Der Staatsanwaltschaft sei kein Vorwurf zu machen, sie habe tätig werden müssen. "Wir glauben, unser Weg, die Menschen, wenn möglich, fest anzustellen, ist der richtige", sagt Denninger. Wer mit Menschen arbeite, die große Schwierigkeiten haben, müsse damit rechnen, "auch mal in eine schwierige Situation zu kommen".