Süddeutsche Zeitung

Haidhausen:Wundertrommel

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Wandelbar und vielseitig: Im Keller des Einstein-Kulturzentrums schlummert ein cineastischer Schatz: das Kim-Kino. Seit 30 Jahren ist es eine Werkstatt der Sinne - und ein Gesamtkunstwerk

Von Astrid Benölken, Haidhausen

"Das gibt's ja gar nicht, was wir alles gemacht haben", sagt Lydia Jackson, und mit jeder weiteren Seite, jedem neuen Bild des Fotoalbums wächst ihr Staunen. Sie zeigt auf eine Aufnahme, lacht auf: "Ach ja, das war was, sechzig Kinder in diesem winzigen Zimmer." Die ersten 25 Jahre Kino im Museum (Kim) stecken in der Essenz dieser Fotos, durch die Kino-Leiterin Lydia Jackson vorsichtig, fast andächtig, blättert. Die letzen fünf Jahre stecken in einem zweiten Buch. Zusammen zeigen sie 30 Jahre Kim.

Die Geschichte des kleinen Kinos lässt sich nicht ohne Lydia Jackson erzählen. Es ist ihre Kopfgeburt, im besten Sinne. In den Achtzigern arbeitet Jackson vier Jahre lang als Volksschullehrerin in Portugal. "Ich hätte nie gedacht, dass ich im Ausland mal die eigene Sprache vermissen würde. Aber genau so war es." Zurück in München bleibt dieses Gefühl. Und es setzt sich ein Gedanke fest: Dass es nicht nur ihr, sondern auch den vielen Kindern mit Migrationshintergrund, die damals in Haidhausen leben, so gehen muss. Kinderkinos gibt es zu dieser Zeit bereits in München. Aber keines, das Filme in anderen Sprachen zeigt.

Und so öffnet am 25. Oktober 1985 zum ersten Mal das "Kinderkino für Ausländer" im Haidhausen Museum. "Yussuf und Kenan" heißt der erste Film, er ist auf Türkisch und rattert auf 16 Millimeter breiten Bändern durch die großen Projektoren, von denen heute noch zwei im Kinovorraum an der Einsteinstraße stehen. "Aber die Filmauswahl war klein und die Angebote für 20 Mark Leihgebühr bald erschöpft", erzählt Jackson. Außerdem werden die Organisatoren von der Lebenswirklichkeit überholt: Viele der besuchenden Klassen werden zunehmend multikulturell und sprechen miteinander fast selbstverständlich: Deutsch. Und so wird das "Kinderkino für Ausländer" kurzerhand zum "Kino im Museum".

Die Basteljahre brechen an. "Von Anfang an war klar, dass wir nicht einfach nur Filme zeigen, sondern die Kinder durch sie inspirieren möchten", sagt Jackson. Gemeinsam spielen sie die Streifen nach, in Schuhkisten entstehen selbst gebaute Filmwelten, aus Bananenkisten werden Faltguckkästchen. "In den ersten zehn Jahren Kim haben wir die Vorgeschichte des Films ziemlich abgefrühstückt," sagt die Kinoleiterin. "Taumatrope, Kaleidoskope, Phenakistiskope, Praxinoskope, Guckkästen, Laterna Magicas, Scherenschnitte - wir haben alles gebaut."

Im Museum Haidhausen ist nicht immer genügend Platz für diese Bastelarbeiten. "Außerdem haben wir uns gewünscht, unabhängiger sein zu können, gerade wegen der Öffnungszeiten", sagt Jackson. Im Keller des gerade eröffneten Einstein-Kulturzentrums in Haidhausen ist noch ein Platz frei. Das "Kino im Museum" zieht in den Keller, doch der Name bleibt.

"Es muss nicht alles perfekt sein, an dieses Motto haben wir uns immer gehalten", sagt Jackson und lässt die Seiten eines Daumenkinos unter ihren Fingern durchratschen. "Gucken Sie mal, ganz schief gezeichnet - aber es funktioniert trotzdem. Herrlich!" Herrlich ist ein Wort, das Lydia Jackson gerne verwendet. In diesem "herrlich" schwingt die Faszination mit, die sie auch nach 30 Jahren noch für die unerschöpfliche Fantasie der Kinder empfindet. Und eine ehrliche Bewunderung für die blau-grün-gelb-roten Papier-Faden-Klebe-Knetkonstruktionen - Bastelschätze einer Generation längst erwachsen gewordener Kinder, die sie in ihrer "Rumpelkammer" stapelt. Besondere Stücke stellt sie in der Filmwerkstatt aus, die kargweißen Kellerwände verschwinden fast vollständig hinter der bunten Last.

Jackson dreht an der schwarzen Wundertrommel in der Ecke. Wer durch die Schlitze an der Seite schaut, sieht ein Mädchen Seilspringen, wieder und wieder, bis die Trommel langsamer wird und der kurze Film in seine Einzelbilder zerfällt. "Das hat damals eine Erstklässlerin gemalt, ganz erstaunlich", sagt Jackson. "Die macht heute in Köln was mit Film."

Die Ausstellungs-Filmwerkstatt, die "Rumpelkammer" und den orange-roten Kinosaal mit den alten Scherenschnitten an der Wand gibt es erst seit einem weiteren Umzug - diesmal innerhalb des Einstein-Kulturzentrums, vor drei Jahren. "Das Kulturreferat hat uns einfach gesagt: 'Hier habt ihr dreimal mehr Platz. Macht's was draus'." Und das Kim-Team macht was draus. Die Literaturbox zieht mit ein, die Katalanischen und die Frauen-Filmtage, der Nachschlag der Ethnologischen Filmtage, das Brasilianische Filmfest, es gibt Kabarett, Konzerte, Ausstellungen, Theater: Das Kim ist längst kein Kino mehr, es ist ein kulturelles Gesamtkunstwerk. Diesen Menschen, dieser Kreativität einen Raum zu bieten, das hat sich Lydia Jackson zur Aufgabe gemacht. Zur Lebensaufgabe.

Jubiläumsveranstaltungen: Brasilianische Filmtage, Samstag, 21. November, 19 Uhr; Film-Matinée: Sonntag, 22. November, 11 Uhr, Kim-Kino, Einsteinstraße 42.

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SZ vom 20.11.2015
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