Projekt "Haftsache":Gutes Handwerk hinter Gittern

Projekt "Haftsache": Jeden Morgen um Punkt sieben beginnt die Produktion für den Webshop haftsache.de. An 16 Standorten in Bayern greifen 52 Handwerker zu Säge, Hammer und Schere.

Jeden Morgen um Punkt sieben beginnt die Produktion für den Webshop haftsache.de. An 16 Standorten in Bayern greifen 52 Handwerker zu Säge, Hammer und Schere.

(Foto: oh)

Der Münchner Design-Professor Fritz Frenkler entwirft mit seinen Studenten Produkte, die im Gefängnis hergestellt werden. Davon profitieren beide Seiten.

Von Julia Bergmann

Wer kauft schon gerne Filzpantoffeln? Sie sind nicht unbedingt cool. Bequem, okay, zumindest wenn sie aus feinster Merino-Schafwolle gefertigt wurden und für perfekt temperierte Füße sorgen. Nicht unbedingt so lässig wie Sneaker, für die junge Menschen schon mal tagelang auf den Verkaufsstart warten. Wie verkauft man also Filzpantoffeln? Mit einer Geschichte, sagt Fritz Frenkler. Mit einer guten Geschichte. "Wir sind Storyteller", sagt Frenkler, 65, Professor für Industrial Design an der Technischen Universität München. Wer heute ein Produkt verkaufen will, müsse vor allem die Idee dahinter präsentieren. "Wenn Sie da nichts erzählen können, können Sie nur über den Preis kommen." Aber wen soll das reizen? Frenkler sicher nicht.

Glücklicherweise steckt hinter www.haftsache.de eine gute Geschichte. Jeden morgen um Punkt sieben beginnt die Produktion für den Webshop. An 16 Standorten in Bayern greifen 52 Handwerker zu Säge, Hammer und Schere. Sie fertigen, so verspricht es die Homepage, hochwertige Designprodukte mit traditionellen Handwerkstechniken an. Darunter auch der "Filzpantoffel anthrazit". Angefertigt von Strafgefangenen. In einer der 16 bayerischen Gefängniswerkstätten, die für Haftsache produzieren.

Fritz Frenkler ist Professor an der TU München. Zusammen mit seinen Studenten entwirft er Design-Gegenstände, die von Gefängnisinsassen angefertigt und anschließend über www.haftsache.de verkauft werden.

TU-Professor Fritz Frenkler betreut das Projekt.

(Foto: Florian Peljak)

So weit, so gut. Die Geschichte hat aber noch einen weiteren guten Aspekt, findet Frenkler. Entworfen werden die Produkte von seinen Designstudenten. Haftsache ist ein Kooperationsprojekt des Bayerischen Justizministeriums und des Lehrstuhls Industrial Design der TU München. Das Projekt sei also einerseits bereichernd für die Insassen, die durch ihre Arbeit Wertschätzung erfahren und sich ein Zubrot verdienen können. Das ist mit den gesetzlich festgelegten 1,26 bis 2,10 Euro pro Stunde für Inhaftierte zwar gering, erlaubt den Gefangenen zumindest, Genussmittel zu kaufen, die nicht in der herkömmlichen Gefängnisverpflegung enthalten sind.

Das Projekt sei andererseits aber auch lehrreich für die Studenten, denn sie sammeln damit erste Erfahrungen für ihr späteres Berufsleben. Mit dem Webshop-Betreiber schließen sie einen Lizenzvertrag ab und erhalten einen Teil des Verkaufspreises ihrer Produkte. Der Großteil der Einnahmen fließt an den Freistaat Bayern und soll so den Steuerzahler entlasten. Bedeutsam ist die Sache aber auch für Frenkler. Weil das Projekt seiner tiefsten Überzeugung entspricht, dass Designer soziale Verantwortung haben.

"Design ist politisch", sagt Frenkler. "Wer in der Hauptstadt immer nur Paläste baut, muss sich nicht wundern, wenn Berlin brennt." Frenkler sitzt in seinem ziemlich leeren, ziemlich weißen Büro in der TU München, ausgestattet mit wenigen Einrichtungsklassikern wie der Tolomeo Tischleuchte von Artemide und dem Wilde+Spieth Stuhl SE 68 und spricht im Stakkato über seine Design- und Architekturauffassung. Dabei verzieht er erst einmal keine Miene. Es ist ihm ernst.

"Wenn sie hingegen Paläste, dafür aber auch Sozialwohnungen bauen, sieht es wieder anders aus", führt er seinen Gedanken zu Ende. Ein drastisches Beispiel, Frenkler findet noch andere. Das mit den selbstfahrenden Kleinbussen etwa. Frenkler meint, jeder sollte einen solchen in Zukunft via Smartphone-App vor seine Haustüre bestellen können. Die Anzahl der Autos auf den Straßen könnte man so verringern. Und mit ihnen den Ausstoß von CO₂.

Frenkler liefert eine Idee nach der anderen, als würde sein Gehirn ständig nach neuen Lösungen suchen. Als er damit fertig ist, sagt er: "Das alles kann Design." Ziemlich weit gefasst. "Ja", gibt Frenkler zu, "wieso auch nicht?" Fester Blick, Unterarme auf den weißen Bürotisch gestützt, die Finger ineinander verschränkt. Auch Dienstleistungen können Design sein. "Wir entwerfen Dinge für Menschen. Wir schaffen Werkzeuge, die den Alltag erleichtern, das Leben angenehmer und einfacher machen", sagt Frenkler", "das ist meine Triebfeder."

Frenkler hat Ende der Siebzigerjahre Industrial Design an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig studiert. Nach seinem Abschluss war er für große Designunternehmen in Deutschland, den USA und Japan tätig, hat unter anderem für Apple gearbeitet. Später war er Designchef bei der Deutschen Bahn. Heute betreibt er drei eigene Designbüros, eines in München, eines in Berlin und eines in Tokio. Seit 2006 ist er auch Universitätsprofessor.

Egal, woran er gearbeitet habe, sagt Frenkler, er habe dabei immer den Menschen im Blick gehabt. Nicht das Geld, sondern die Frage: Wie kann das Produkt das Leben des Benutzers besser machen? Den Alltag. "Deswegen frage ich meine Mitarbeiter, wenn sie einen neuen Entwurf haben, ob sie schon die Putzfrau nach ihrer Meinung gefragt haben." Als Beispiel erwähnt der Designer Radios - überall Schlitze und Rillen in den Gehäusen. Grotesk. Wer ein Produkt kauft, soll sich nicht jeden Tag über die Reinigung ärgern.

Was Frenkler an Haftsache besonders gefällt: "Die Inhaftierten können bei diesem Projekt eine Ausbildung abschließen. Das ist mir wichtig." Weil es den Beschäftigten Perspektiven aufzeigt, weil die Ausbildung später, nach dem Gefängnis, die Grundlage für eine neue Existenz sein kann. Sehen das auch die Insassen so? Ein Gespräch mit einem der Gefangenen, die für Haftsache produzieren, ist aus Sicherheits- und Datenschutzgründen nicht möglich.

Eine Sprecherin des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz beteuert aber, dass das Projekt Haftsache von den beteiligten Gefangenen positiv angenommen wird. "Sie bekommen hierdurch die Bestätigung, dass sie Teil unserer Gesellschaft sind und ihre Handwerkskraft und ihr kreatives Knowhow gefragt sind." Das bestätigt auch Karl Rehm, Leiter der Service- und Koordinierungsstelle für das Arbeiten im Strafvollzug. Erst vor kurzem sei ein ehemaliger Häftling auf einer Design-Messe auf ihn zugekommen. Der Mann habe ihm davon erzählt, wie er im Strafvollzug einen Schweißer-Lehrgang absolviert hatte. "Draußen hat er dann eine Ausbildungsstelle gefunden. Er hat mir gesagt, wenn er diese Grundlage nicht gehabt hätte, hätte er die Stelle nie bekommen."

"Wir hatten bei der Gestaltung ziemlich freie Hand"

Durch die Internetpräsenz von Haftsache sei mittlerweile auch das Interesse von Geschäftskunden gestiegen, in JVA-Werkstätten produzieren zu lassen. Seit der Eröffnung des Onlineshops 2017 konnten durch zusätzliche Aufträge 13 neue Stellen für Häftlinge geschaffen werden. Langsam steige auch das Interesse der Kunden. "Ich denke, wir sind da auf einem guten Weg", sagt Rehm. Die Preise im Shop seien zwar trotz des niedrigen Stundenlohns hoch, dafür die Produkte aber auch hochwertig. Qualität hat ihren Preis. Das sagt auch Frenkler, der für ein herausragendes Steak auch mal ans andere Ende der Stadt fährt, der lieber wenige teure, dafür aber gute Dinge besitzt, die lange halten. Eine Sache der Nachhaltigkeit. Und des Respekts - für die Ware und den, der sie produziert hat.

Das ist bei Frenkler nicht nur so dahergesagt. Besonders die Sache mit dem Respekt nimmt er ernst und will das auch seinen Studenten vermitteln. Manchmal mit dem Brecheisen. "Das fängt bei Coffee-to-go-Bechern an", sagt er. Wenn in seiner Vorlesung jemand mit Kaffee im Pappbecher auftaucht, schmeißt Frenkler ihn raus. "Dafür ist der Kaffee zu wertvoll", sagt er. Wer Kaffee so trinke, habe keinen Respekt vor den Farmern, die ihn angebaut haben, vor der langen Produktionskette, vor dem Aufwand, der in jeder einzelnen Bohne steckt.

Eine der Studentinnen, deren Produkt über Haftsache verkauft wird, ist Sabrina Bartholl. Sie erzählt von ihren Erfahrungen mit dem Projekt. "Wir hatten bei der Gestaltung ziemlich freie Hand", sagt sie. "Einschränkungen gab es aber hinsichtlich der Materialien. Sie sollten möglichst natürlich sein." Holz, Metall, Filz. Kein Kunststoff. So will es die ebenfalls von TU-Studenten mitentworfene Corporate Identity von Haftsache.

Im Gegensatz zu anderen Gefängnisshops, etwa dem Hamburger Santa Fu, der bewusst mit dem "Schwere-Jungs-Image" spielt, tritt Haftsache zurückhaltend auf. Das gilt sowohl für die Materialien, als auch für Vermarktung und Design. Limitierender Faktor war bei der Herstellung für Haftsache bis zu einem gewissen Grad auch die Ausstattung der JVA-Werkstätten, sagt Bartholl. Auch deswegen sollen die Designs der Studenten so einfach wie möglich umzusetzen sein. Bartholl hat gemeinsam mit einer Gruppe Kommilitonen einen Kulturbeutel entworfen, der in der JVA Straubing produziert wird. Die Studenten waren nach der Planungsphase dort zu Besuch, um zu sehen, wie ihre Tasche hergestellt wird. Auch das ist ihrem Professor wichtig. Die Studenten sollten sehen, wie im Gefängnis gearbeitet wird, sagt Frenkler. Sie sollten es sehen und etwas daraus lernen.

Darf man Bartholl glauben, ist das auch passiert. "Wir waren alle überrascht", sagt sie. Man habe sehen können, wie sehr sich die Gefangenen mit ihrem Produkt auseinandersetzen. Auch die Atmosphäre sei nicht so gewesen, wie erwartet. "Wir haben vor Ort die Gefangenen nicht als solche wahrgenommen", sagt sie. "Wir haben sogar vergessen, dass wir in einer JVA sind." Erst beim Verlassen sei es der Gruppe wieder klar geworden. Ähnliches berichtet Tobias Bahne, der mit einer Gruppe Kommilitonen einen Holzgleiter, ein Spielzeugflugzeug zum Zusammenbauen, entworfen hat. Seine Gruppe habe sich vorab darüber Gedanken gemacht, welches Produkt die Gefangenen gerne herstellen würden. "Wir haben gedacht, es wäre vielleicht schön für die Fertigenden zu wissen, sie machen etwas für Kinder", sagt Bahne.

Frenklers Wunsch ist Wirklichkeit geworden. Der Besuch, die Teilnahme am Projekt, hat etwas gemacht mit seinen Studenten. Hat ihnen gezeigt, wie weit Design gehen kann, was Design bewegen kann. Frenkler ist schon klar: "Die Dinge, die wir da anbieten, kann man vielleicht auch woanders bekommen." Aber? Dramatische Pause. "Nicht mit der Geschichte." Bedeutungsvoller Blick, Frenkler lächelt.

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