Schwer zu schätzen, wie groß ihre Tochter ist, sagt Rose Gartler. „Vielleicht ein Meter fünfundsechzig? Aber ich weiß, was sie wiegt: 50 Kilo.“ Die 59-Jährige lächelt milde: Wenn die Tochter an den Wochenenden bei ihr in der gemeinsamen Wohnung ist, muss sie sie alle zwei bis drei Stunden umlagern. Länger kann die 38-Jährige nicht auf einer Stelle sitzen oder liegen. „Sonst kriegt sie Druckstellen und wird wund.“
Marie ist mit einem Schwesterchen zur Welt gekommen. Sie ist durch den massiven Sauerstoffmangel bei der Geburt von Anfang an schwerstbehindert. Ihr Zwilling hat nur fünf Tage gelebt. Rose Gartler (alle Namen geändert) blättert in ihrer Wohnung im Münchner Norden durch ein Fotoalbum mit ersten Bildern ihrer Töchter, Marie an Schläuchen, in zu großen Stramplern, auf dem Arm ihrer Mutter. Auf der nächsten Seite ein kleiner weißer Sarg, mit Rosen geschmückt. „Susas Beerdigung“, sagt Rose Gartler.
Dass Marie niemals alleine sitzen, gehen, sprechen und mit Gleichaltrigen Bilderrätsel wird lösen können, erfuhr ihre Mutter erst ein halbes Jahr nach der Geburt im Allgäu. „Ich hab’ sie dort aus dem Krankenhaus selbst entlassen und bin mit ihr auf eigene Faust ins Kinderzentrum nach Großhadern gefahren, um sie da vorzustellen.“ Die Diagnose in München hat die junge Mutter umgehauen: Ihr Kind sei körperlich und geistig schwerst behindert und werde nicht älter als sieben Jahre alt werden.
38 Jahre ist das nun her, und von den Wänden der mütterlichen Wohnung lächelt aus unzähligen Bilderrahmen Marie als kleines Kind, als Mädchen, als junge Frau, meistens halb liegend, die zurückgestellte Lehne eines mächtigen Rollstuhls ist leicht angeschnitten immer zu sehen.

25 Jahre haben Mutter und Tochter zusammengewohnt und ihren Alltag gemeinsam gemeistert, erzählt Rose Gartler, die mit dem Vater der Mädchen nie zusammengelebt hat. „Ich habe gelernt, wie man Marie mit einer Sonde ernährt, mit ihr, bis sie 16 Jahre alt war, drei- bis viermal am Tag Physiotherapie gemacht.“ Die junge Frau hat eine Spastik, sie kann ihre Glieder nicht recht strecken, die Übungen sind schmerzhaft, viermal im Jahr wird ihr zur Entkrampfung der Muskeln Botox gespritzt. Da steht keiner Schlange, wenn’s ums Kindsitten geht. „Es ist nicht einfach, jemandem im Privatbereich zu finden, der sich das zutraut“. Es ist für Rose Gartler über Jahre eine Betreuung rund um die Uhr.
Nachdem Marie an der sich ständig weiter krümmenden Wirbelsäule operiert worden ist, hat ihre Mutter einen Deckenlifter im Schlafzimmer des Mädchens installiert, der ihr hilft, die immer schwerer werdende Tochter vom Rollstuhl ins Bett zu hieven.
„Was sie für eine Altersprognose hat, interessiert mich nicht“
Rose Gartler holt das nächste Fotoalbum aus dem Regal: „Mit sechs hat sie einen Platz in einer Fördereinrichtung bekommen, sie wurde morgens abgeholt und am Nachmittag wieder gebracht.“ Marie in Faschingsverkleidung, mit umgehängtem Malerkittel, lachend schaut sie in Liegeposition aus den Bildern. „Lernen war nie möglich, aber dass sie sich integrieren kann, ist viel wert.“ Inzwischen lebt die junge Frau in einer Einrichtung mit Wohnheim für mehrfach Behinderte im Westen von München. Jedes zweite Wochenende kommt sie heim. Während des Interviews ist sie nicht dabei.
Weil sie ihr Kind versorgt hat, konnte Rose Gartler viele Jahre nicht arbeiten gehen. „Ich habe von Sozialhilfe gelebt.“ Als Marie anfing, in eine Betreuung zu gehen, hat ihre alleinerziehende Mutter das Fachabitur nachgeholt und dann noch Lehramt studiert. „Jetzt arbeite ich voll, ich versuche, die versäumte Arbeitszeit aufzuholen, damit ich nicht elendiglich in die Altersarmut rutsche.“
Das Geld reicht aber nicht für die maßangefertigte Rollstuhl-Sitzschale, angepasst an die sich verändernde Wirbelsäulenkrümmung. Nicht für die zweiteiligen Thermo-Schlupfsäcke, die Marie für ihre geliebten Spazierfahrten im Rollstuhl überziehen muss, die alten sind zerschlissen. Die Kommode in ihrem Wohnheimzimmer müsste nach einem Wasserschaden ebenfalls erneuert werden.
„Marie ist mein Ein und Alles“, sagt Rose Gartler. „Was sie für eine Altersprognose hat, interessiert mich nicht.“
So können Sie der Familie von Marie Gartler und anderen Bedürftigen in München helfen:
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