Süddeutsche Zeitung

Politik in München:Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei

Für die Partei war Basisdemokratie stets ein Grundpfeiler ihrer Politik. Doch wie soll das noch gehen, dass immer alle mitreden dürfen, wenn man plötzlich von Mitgliedern überrannt wird? Mit einer Reform.

Von Heiner Effern

Die Grünen haben zuletzt ziemlich heftig gespürt, dass sie sich neu erfinden müssen. Nicht bei den politischen Themen, die haben sie in den letzten Wahlen zur Nummer eins in München gemacht. Es geht um die Nebenwirkungen ihrer Erfolge. Der Münchner Kreisverband wurde von neuen Mitgliedern regelrecht überrannt, er ist mit aktuell 3800 der größte in der Bundesrepublik. Für Stadtparteitage musste die Partei immer öfter teure Hallen mieten, die ungebremste Basisbeteiligung sorgte für lange Tage oder Abende. Und nicht selten für zumindest unzufriedene oder auch genervte Mitglieder. Die Ehrenamtlichen im Stadtvorstand sandten immer wieder Signale, dass sie am Anschlag arbeiteten - und darüber hinaus.

Immer drängender stellte sich also die Frage: Wie viel Basis, wie viele Sponti-Ideen, aber auch wie viel Professionalität dürfen oder müssen sein in einer Partei, die als stärkste Fraktion München mitregiert und 2026 die Oberbürgermeisterin stellen will?

Anders gesagt: Wie viel Alfred Mayer können sich die Grünen noch leisten? Der streitlustige Senior beschäftigt die Partei in nahezu jeder Versammlung. Nicht nur mit Schimpfkanonaden gegen die Spitze, sondern auch mit jeder Menge mehr oder weniger sinnvoller Anträge, die dann basiskonform Punkt für Punkt durchgekaut werden.

"Unser bisheriges Modell schafft es nicht mehr, alle einzubinden"

Zweieinhalb Jahre haben sich die Grünen mit diesen Fragen beschäftigt. Herausgekommen ist eine Reform, die weniger Alfred Mayer, aber immer noch viel Basisbeteiligung und dazu mehr professionelle Strukturen vorsieht. "Unsere Relevanz ist spätestens nach der Kommunalwahl so groß, dass wir noch schlagkräftiger werden wollen und müssen", sagte der Stadtvorsitzende Joel Keilhauer. "Unser bisheriges Modell schafft es nicht mehr, alle einzubinden." Das sei aber weiterhin die DNA grüner Politik. "Basisdemokratie war und ist der Leitgedanke des Strukturprozesses."

Offensichtlich ist es den Verantwortlichen gelungen, das Ziel schon ein gutes Stück weit umzusetzen: Auf dem digitalen Parteitag am Wochenende gab es kaum Gegenredner. Und das Verfahren war so stringent durchgeplant, dass Abstimmungsergebnisse von mehr als 90 Prozent Zustimmung an weniger diskussionsfreudige Parteien erinnerten.

Künftig benötigt jeder Antrag zehn Unterstützer, damit er in die Stadtversammlung eingebracht werden kann. Das dürfte Alfred Mayer und andere Einzelkämpfer deutlich einbremsen. Um mehr inhaltlich diskutieren zu können, sollen alle Formalia in einem Hauptparteitag pro Jahr zusammengelegt und erledigt werden. Das dürfte den Grünen nicht selten eineinhalb Stunden Vorlauf ersparen, bis es richtig losgeht. Die mindestens drei weiteren Stadtversammlungen sollen sich mit inhaltlichen Debatten beschäftigen und wochentags am Abend stattfinden. Die Parteitreffen bleiben aber offen für alle Mitglieder, ein denkbares Delegiertensystem mit Abgesandten aus den Ortsverbänden wird es nicht geben.

Es gibt jetzt Geld für die Vorstände, das soll die Posten attraktiv machen

Darüber hinaus sollen die Ortsverbände in ihrer Arbeit professionalisiert und die Arbeitskreise straffer angelegt werden. Die Mitglieder des Stadtvorstands werden künftig für ihre Arbeit entlohnt. Jeder der beiden München-Chefs der Grünen wird künftig 2900 Euro pro Monat erhalten, angelehnt an die Entschädigung eines normalen Stadtrats. Die drei neu eingeführten Stellvertreter bekommen ein Viertel davon, der oder die Schatzmeisterin die Hälfte. In Summe werden die Grünen künftig ihren Vorstand mit mehr als 100 000 Euro im Jahr entschädigen. Das soll diese Jobs attraktiv machen für Mitglieder, die dafür zum Beispiel die Arbeitszeit in ihren Brotberuf verringern können und nicht die Partei noch draufpacken müssen.

Der Beschluss der Stadtversammlung ist vorläufig. Er muss noch mit einer persönlichen Stimmabgabe im Stadtbüro rechtsgültig bestätigt werden. Das gleiche Prozedere wird bei der digitalen Wahl des Stadtvorstands am Mittwoch angewandt. Die bisherige Vorsitzende Ursula Harper wird dann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr antreten, für ihren Platz bewerben sich Maria Wißmiller und Svenja Jarchow-Pongratz. Joel Keilhauer will weitermachen, ablösen will ihn Martin Züchner.

Wie sehr Basis und Stadtvorstand politisch mitmischen wollen, zeigten sie am Sonntag, als die Strukturfragen geklärt waren. In zwei Anträgen machten sie ihrem Ärger über die Automobilmesse IAA in München Luft. Die "Blue Lane", also eine gesperrte Fahrspur auf Straßen für die Messe, soll es nicht mehr geben. Am liebsten wollen sie die IAA ab 2025 gar nicht mehr in München haben, den Stadtrat rügten sie für Intransparenz.

Doch es gab nicht nur Ärger, sondern auch einen Abschied. Die Grünen bedankten sich bei der im Herbst nicht mehr gewählten Bundes- und Landespolitikerin Margarete Bause für ihr jahrzehntelanges Engagement. Sie sei für sie "ein Vorbild", sagte Stadtchefin Harper.

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