Süddeutsche Zeitung

Große Bühne:"Die Kunst lebt"

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Das Publikum der Tassilo-Preisverleihung verbringt einen beschwingten Abend mit ausgezeichneten Kulturschaffenden aus München und der Region sowie beeindruckten Ehrengästen.

Von Karin Kampwerth

Wann hat es das zum letzten Mal gegeben? Einen Abend voller Begegnungen mit Menschen, deren Antlitze nicht durch einen Monitor gerahmt werden. Eine Feier, bei der die Gäste an fein gedeckten Tischen sitzen und bei einem Glas Weißwein mit den Sitznachbarn scherzen. Man hat die schönen Kleider aus dem Schrank geholt, ist in die guten Schuhe geschlüpft. Auf der Bühne besprechen die Moderatorinnen konzentriert den Ablauf der kommenden Show, während sie mit Mikrofonen verkabelt werden. Es liegt was in der Luft.

Berührt, begeistert, bereichert - so lässt sich die Stimmung beschreiben, in der das Publikum vier Stunden später ein bisschen beseelt nach Hause geht. Nicht nur, weil der Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung wieder an herausragende Künstlerinnen und Künstler aus Stadt und Landkreisen verliehen worden ist. Sondern auch, weil sich die schöne Show dazu im Münchner Künstlerhaus richtig angefühlt hat. Richtig für die Menschen, die mit ihrem Talent, mit ihrer außergewöhnlichen Begabung, ihrem Reichtum an kreativem Potenzial und ihrer Freude daran, das Publikum zu überraschen, zurück auf der Bühne sind.

"Die Kunst lebt", rief Kabarettist Christian Springer ins Publikum. Es war Feststellung und Aufforderung zugleich. Feststellung, weil die Kultur langsam wieder Fahrt aufnimmt, was im Künstlerhaus mit der Verleihung der Tassilo-Preise unterstrichen wurde. Und Aufforderung, weil man sich weder von einem Ministererlass und schon gar nicht von einer Pandemie unterkriegen lassen wolle.

Gemeinsam mit der Pianistin Sophie Pacini zeichnete Springer die Gewinner der drei Hauptpreise - Andrea Fessmann, Peter Kees, die Regenschirmpoeten - und der zwei Sozialpreise - Giulio Salvati und Viktor Schenkel - aus. Außerdem übergab Springer den Tassilo-Preis für das Lebenswerk an Hans Prockl. Springer und Pacini übernahmen diese Aufgabe ehrenamtlich. Genauso wie die Fachjury, zu der neben Pianistin Pacini die Architektin und Künstlerin Regina Baierl, Birgitt Binder vom Dorfener Jakobmayer, Axel Tangerding vom Moosacher Meta-Theater und Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler gehörten. Sie hätten die Preisträger nach vielen Stunden Materialsichtung aus weit über 50 Nominierten ausgewählt, und zwar "bedingungslos", wie SZ-Kulturredakteurin Sabine Reithmaier sagte, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Susanne Hermanski durch den Abend führte. "Deswegen wird Sophie Pacini nicht besser besprochen und Axel Tangerding kommt nicht öfter in die Zeitung", sagte Reithmaier.

Echte Gäste, echte Show: Noch mit pandemiebedingtem Abstand freute sich das Publikum im Münchner Künstlerhaus über die Tassilo-Kulturpreisverleihung. Die Veranstaltung war auch im Live-Stream zu sehen.

Der Gebärdenchor "Sing&Sign" berührte das Publikum mit einem Video, in dem die Mitglieder einen Popsong mit ihren Händen singen.

Für Liebe, Gemeinschaft und gegen soziale Missstände steht DJane Anja Winnes an den Turntables.

Mit atemberaubenden Hebefiguren beeindruckten zwei Mitglieder der Artistik-Gruppe Movimento das Publikum.

Endlich wieder beisammen sein, feiern und sich über eine tolle Show freuen: Das Publikum war auch unter Corona-Schutzmaßnahmen begeistert.

"Ich bin wahnsinnig froh, dass jemand auf die Idee gekommen ist, mich einzuladen", sagte Hauptreisträger-Pate Christian Springer.

Welches kreative Spektrum die Preisträger auf die Bühne bringen, begeisterte Springer sichtlich. "Das ist unsere Kultur! Menschen, die sich ehrenamtlich reinhängen", sagte er im Anschluss an den Abend, der neben der emotionalen Note durchaus politische Botschaften transportierte. Etwa von Springer selbst, der sich nach dem Auftritt des Gebärdenchors Sing & Sign tief bewegt zeigte. Die 20 Schülerinnen und Schüler der Samuel-Heinicke-Realschule in Nymphenburg bilden den Chor, "der keinen Ton von sich gibt und seinen Mitgliedern dadurch eine Stimme verleiht", so Susanne Hermanski in ihrer Laudatio. In einem so berührenden wie fröhlichen Video übersetzen die jungen Menschen einen Popsong in die Gebärdensprache. "Wenn sie mit ihren Händen singen, tun sie das auch stellvertretend für die 80 000 Gehörlosen und 140 000 Schwerhörigen in Deutschland", sagte Hermanski.

Als "unglaublich bereichernd" empfand wohl nicht nur Christian Springer das Video des Chors, das auf einer großen Leinwand hinter der Bühne eingespielt wurde. "Gleichzeitig bin ich wütend", sagte er. "Wir lernen Türkisch, Englisch oder Französisch", er selbst habe sogar Arabisch studiert. "Und dann sind wir nicht in der Lage, mit Gehörlosen ein Ja, Nein, Danke oder Bitte zu kommunizieren." In der Zustimmung für dieses Statement zeigte sich das Publikum vereint: mit angewinkelten Armen, in die Höhe gestreckten Händen und gespreizten Fingern - die Gebärde für Applaus.

Eine Botschaft brachte auch Kamill Lippa mit auf die Bühne. Die nicht-binäre Künstlerpersönlichkeit will sich in keine Schublade stecken lassen und spürt in ihrer Kunst lieber der Frage nach, "was Macht mit Menschen macht und Menschen mit Macht machen". Lippa arbeitet mit verschiedenen Materialien, Medien sowie seiner Trans-Persönlichkeit, um queere Menschen sichtbar zu machen. Das sei umso wichtiger, seitdem die Pandemie der LGBTQI*-Szene ihre Schutzräume genommen habe. Auch Schwulen- und Lesbenbars waren lange geschlossen, aber nicht jede queere Person bewege sich selbstbewusst im öffentlichen Raum, so Lippa. "Ich bin hier, ich bin queer, und die Welt muss das wissen."

Die Botschaft der Freisinger Reggae-DJane Anja Winnes verbreitet sich über die Turntables: Homophobie und Gewalt kommen ihr nicht auf den Plattenteller. Dafür aber Gesellschaftskritik. Und eine universelle Botschaft: "Mit Liebe und Unity gemeinsam gegen soziale Missstände."

Das Verbindende zeichnet auch die diesjährigen Tassilo-Preisträger Movimento aus. Zwei Mitglieder der Grafinger Artistik-Gruppe - die laut Gründer Stefan Eberherr allen offen steht, die sich gerne bewegen - zeigten ihr Können mit atemberaubenden Hebefiguren auf der Bühne. Das Theater 4 aus Fürstenfeldbruck versteht sich hingegen als Stimme einer jungen Generation, die mit selbstgeschriebenen Stücken klug, unterhaltsam und politisch ist. Die Regenschirmpoeten, zehn junge Autorinnen und Autoren, brachten im Anschluss ihre Liebe zu Lyrik auf die Bühne. Junge Menschen, die ihr Gefühl für die Sprache mit einem Gedicht zu einer poetischen Performance inszenieren - das Publikum war verzaubert.

Die Kunst in der Kultur braucht aber auch das verrückte Element. Dafür steht das Kollektiv Elle, ein "immersives Dorftheater" vom Ammersee, bei dessen Aufführungen die Gäste schon einmal Handy, Geldbeutel oder Schlüssel abgeben müssen. Aber auch der Ebersberger Aktionskünstler Peter Kees, der unter anderem ein Arkadien-Festival mit humorvollen und geistreichen Installationen ins Leben gerufen hat. Und nicht zuletzt die Glonner Schrottgalerie, ein Veranstaltungsteam ohne Vereinsstruktur, das ein kreatives Kulturprogramm aufstellt, zu dem der Eintritt immer frei ist. Am Ende gehört alles, was im Hut landet, den Künstlern.

Nicht zuletzt benötigen Kulturschaffende einen langen Atem. Wie Andrea Fessmann aus Bad Tölz, die vier Chöre leitet, im Ensemble musiziert, Gesang unterrichtet und die Iffeldorfer Meisterkonzerte organisiert. Oder Hans Prockl, den Springer als "Momentesammler", bezeichnete, weil er seit Jahrzehnten filmt, fotografiert und schreibt - von Menschen, die sonst nicht im Mittelpunkt stehen.

"Ich bin wahnsinnig froh, dass jemand auf die Idee gekommen ist, mich einzuladen", sagte Springer am Ende des Abends. Ein Gedanke, mit dem sicher die meisten Gäste nach Hause gegangen sind.

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Quelle:
SZ vom 03.07.2021
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