Süddeutsche Zeitung

Kinderkrippe in Grafrath:Eltern prangern mutmaßliche Übergriffe auf Kinder an

Kam es in einer Krippe in Grafrath zu Übergriffen auf Ein- bis Dreijährige? Die Staatsanwaltschaft will die Ermittlungen in dem Fall von 2019 wieder aufnehmen. Im Blickpunkt stehen Vorwürfe gegen eine frühere Einrichtungsleiterin, aber auch gegen den Träger der Krippe und Behörden.

Von Stefan Salger, Grafrath

Ist es in einer Grafrather Kinderkrippe 2019 zu körperlichen und seelischen Übergriffen auf ein- bis dreijährige Kinder gekommen? Vor allem aber: Wurden Ermittlungen vorschnell eingestellt? Und sind die Behörden ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen, wie sie dies beteuern? Diese Fragen wirft ein Bericht des Bayerischen Rundfunks vom Mittwoch aus der Reihe Funkstreifzug auf. Es geht um den Fall einer ehemaligen Einrichtungsleiterin, die mehrere Kleinkinder beschimpft und misshandelt haben soll. Die Mutter eines betroffenen Buben bestätigte am Mittwoch der SZ gegenüber die Vorwürfe von Eltern und forderte Gerechtigkeit. Die Staatsanwaltschaft will den Fall nun wieder aufgreifen und weitere mögliche Zeugen vernehmen, die ihr jüngst genannt worden sind.

Corinna Bürk aus Grafrath ist eine der Betroffenen. 2019 besucht ihr zweieinhalb Jahre alter Sohn die Kinderkrippe Rassobande in Grafrath. Die Mutter eines anderen Kindes berichtet ihr, dass die damalige, offenbar deutlich überforderte Leiterin der Einrichtung ihren Sohn nach dessen Schilderung fest angepackt und beschimpft habe. Auf Nachfrage habe dann auch ihr Kind davon berichtet, dass es, als es nicht essen wollte, auf den Kopf geschlagen worden sei. Ein weiteres Kleinkind erzählt auf Nachfrage offenbar, es sei zur Strafe kalt abgeduscht worden.

Der Sohn von Corinna Bürk ist geradezu erleichtert, als er damals von seiner Mutter erfährt, dass er nach den Sommerferien nicht mehr in die Krippe zurück muss. Bürk traut sich nach eigenen Worten nicht zu, die Leiterin der offenbar auch personell unterbesetzten Einrichtung zur Rede zu stellen. Sie wendet sich aber an die im Landkreis Starnberg ansässige gemeinnützige Trägergesellschaft "Fortschritt". Sie findet es "beschämend", dass sie auf eine E-Mail, in der sie auf die Übergriffe hinweist, keine Antwort erhält und es später heißt, in dem Fall stehe Aussage gegen Aussage. Die Einrichtung betont, es habe schriftlich sehr wohl Kontakt zu Eltern gegeben sowie auf einem Elternabend Gesprächsmöglichkeiten. Und bis heute gelte das Angebot für eine psychologische Betreuung.

Elternvertreter erstatten Anzeige

Bürk jedenfalls fühlt sich im Stich gelassen. Gemeinsam mit sieben weiteren Elternvertretern erstattet sie Anzeige. Doch die Ermittlungen verlaufen zäh. Weder Mitarbeiterinnen, die mit der beschuldigten Leiterin täglich zusammenarbeiten und aus eigener Erfahrung berichten könnten, noch Kinder seien angehört worden. Für die Krippenleiterin gilt bis heute die Unschuldsvermutung.

Das im Landratsamt ansässige Jugendamt als zuständige Aufsichtsbehörde schickt im November 2019 Mitarbeiter in die Grafrather Krippe. Bereits Mitte Oktober hatte sich die umstrittene Leiterin, die vom BR für eine Stellungnahme nicht erreichbar war, zunächst krank gemeldet und war dann gekündigt worden. Unverständlich ist für die Eltern der Kinder, von denen einige bis heute psychische Auffälligkeiten zeigen, warum alles so lange gedauert hat. Denn eine Erzieherin, die damals aushilfsweise in der Krippe arbeitete, hatte der Aufsichtsbehörde dem BR-Bericht zufolge bereits Anfang August entsprechende Beobachtungen gemeldet. Weil sie Konsequenzen wegen des Verstoßes gegen die Schweigepflicht befürchtete, tat sie dies anonym.

Das Landratsamt widerspricht freilich dem Vorwurf, zu lange untätig gewesen zu sein. In den Meldungen im August sei es um einen "unangemessenen Umgangston" in der Einrichtung gegangen und um Teamkonflikte. Unmittelbar nach der Sommerschließzeit, also Mitte September, habe man den Träger um sofortige Stellungnahme gebeten, so eine Sprecherin am Mittwoch. In einem Gespräch am 24. September wurden Auflagen zur "Fortbildung und Teambildung" erlassen. Erst Ende Oktober habe sich dann eine Mutter gemeldet und die Einrichtungsleiterin beschuldigt, ihr Kind geschlagen und als "Blöde Kuh" bezeichnet zu haben. Deshalb machte das Jugendamt klar, dass die bereits krank gemeldete Leiterin nach Rückkehr "nicht mehr alleine mit Kinder arbeiten darf". Am 5. November folgte eine unangekündigte Kontrolle in der Kinderkrippe. Die beschuldigte Leiterin war da bereits gekündigt.

Befragung von Kindern schwierig

In vergleichbaren Fällen würden Betreuerinnen sowie meldende Eltern vom Jugendamt befragt und Elternbefragungen ausgewertet. Die Befragung von Kindern sei pädagogisch schwierig und nur mit Zustimmung der Eltern möglich. "Wenn diese das wünschen, werden Kindergartenkinder befragt. Krippenkinder werden nicht befragt." Letztlich konnten die erhobenen Vorwürfe aber "weder nachgewiesen noch widerlegt werden".

Wie häufig im Landkreis Übergriffe in Krippen und Kindergärten vorkommen, lässt sich schwer feststellen. Viele Eltern dürften sich scheuen, sich bei Behörden zu melden. Wenn sich ihre Kinder auch ihnen gegenüber überhaupt offenbaren. Seit dem Vorfall in Grafrath und bis Ende 2022 verzeichnete das Landratsamt 53 Meldungen. Meist waren es Übergriffe unter Kindern, Vorwürfe nicht angemessenen pädagogischen Verhaltens und Fehlverhaltens des Personals gegen Kinder. "Grundsätzlich werden in allen Fällen die Träger, das Personal und die Eltern angehört. Bei Verdachtsfällen von Personalübergriffen werden immer Maßnahmen zum Schutz der Kinder ergriffen." Sechs Mitarbeiterinnen kümmern sich im Landratsamt etwa 204 Stunden pro Woche um die Aufsicht von Kitas - 26 Wochenstunden mehr als noch 2019.

Ein aktenkundig gewordener Fall liegt bereits lange zurück: Im August 2003 hatte das Montessori-Kinderhaus in Puchheim eine Erzieherin als Reaktion auf einen Strafbefehl wegen Körperverletzung entlassen - die Frau legte gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Einspruch ein. Ihr waren zwei Fälle von Körperverletzung und Nötigung sowie ein Fall von fahrlässiger Körperverletzung angelastet worden. Mitarbeiter hatten damals von Misshandlungen der Krippenkinder berichtet und damit Vorwürfe einer Gruppe von Eltern bestätigt.

Karl-Heinz Theis, dem Kreisvorsitzenden des Kinderschutzbundes, sind keine solchen Delikte bekannt. Auch zu dem Fall in Grafrath kann er nichts sagen. Grundsätzlich habe er aber das Gefühl, das Jugendamt tue "sein Bestes", auch wenn seinem Eindruck zufolge dort die personelle Fluktuation ungewöhnlich hoch ist.

Beschwerdestelle in jeder Kita

Mit Konflikten gehe man inzwischen anders um, heißt es am Mittwoch vom Träger Fortschritt. Man habe mittlerweile in jeder Kita eine Beschwerdestellen eingerichtet für Eltern. Auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die über Unregelmäßigkeiten oder besorgniserregende Wahrnehmungen berichten wollen, gebe es fachlich geschulte Vertrauenspersonen. Fortschritt-Sprecherin Verena Fahrion zufolge "hat uns der Fall nochmal deutlich gezeigt, wie wichtig es ist, stets transparent und vor allem präventiv zu handeln". Jede Einrichtung habe seit Anfang 2020 unter Einbeziehung der Eltern und eines Kinderschutzbeauftragten ein Kinderschutzkonzept entwickelt. Zudem besuche ein mobiler psychologischer Dienst die Kitas nun regelmäßig. Eventuelle "Schieflagen" sollen vom Mitarbeitern verpflichtend gemeldet werden.

Im Juni 2021 stellte die Staatsanwaltschaft München II zunächst die Ermittlungen ein, die nun freilich fortgeführt werden sollen. Dies begründet eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft am Mittwoch gegenüber der SZ damit, vom BR sei eine Namensliste mit weiteren möglichen und bislang nicht bekannten Zeugen vorgelegt worden.

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