Gräfelfing:Zart, fragil, sinnlich

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Eine Ausstellung im Gräfelfinger Alten Rathaus zeigt Kunstobjekte, bei denen Textiles im Mittelpunkt steht

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Gedanken lesen, anderen in den Kopf schauen - das ist seit jeher ein Wunsch vieler. Sheila Furlan wagt den Blick. Die Künstlerin hat eine Büste, einen Frauenkopf, aus transparentem Organza-Stoff genäht. An einem durchgehenden Faden spinnen sich deren Gedanken, auf Stoffstreifen aufgestickt, durch den Kopf. "Ich bin wie gelähmt", ist zu lesen, "alles habe ich verloren - auch meine Würde". Die textile Skulptur trägt den Titel "Krieg. Gedanken. Tränen" und ist eigens für die Herbstausstellung des Kunstkreises Gräfelfing entstanden. Furlan ist eine von drei Künstlerinnen, die vom kommenden Wochenende an ihre Arbeiten unter dem Titel "Textile Skulptur. Raum-Körper-Hülle" im Alten Rathaus zeigen.

Kunst aus Textilien scheint Trend zu sein. In Galerien und Museen beobachtet Cornelia von Detten, die mit Katharina Andrelang die Ausstellung kuratiert hat, die Faszination an der Textilkunst: "Das Thema liegt in der Luft." Nach viel computeranimierter Kunst, Videoarbeiten und multimedialen Performances wenden sich die Künstler Greifbarem zu: Nähen, Sticken, Stricken, Häkeln. Handarbeiten als das Verewigende wider die Flüchtigkeit, die den Alltag beherrscht. Garne, Stoffe und Techniken werden dabei in einen neuen Zusammenhang gebracht, losgelöst von Sockenstricken, Röckenähen, Taschtücherbesticken. Jede der drei Münchner Künstlerinnen - neben Furlan auch Ina Ettlinger und Monika Supé - setzt sich auf unterschiedliche Weise mit dem Textilen auseinander; und doch zieht sich ein roter Faden durch die Arbeiten: Die Künstlerinnen, die alle auf etliche Ausstellungen, Förderungen und Auszeichnungen zurückblicken können, greifen Elemente der Malerei und der Zeichnung in ihren Werken auf.

Am deutlichsten wird das in den Arbeiten von Furlan. Sie nennt einige ihrer Werke auch Fadenzeichnungen. In transparenten Seidenstoff, der breite Rahmen vorne und hinten bespannt, stickt sie Auszüge aus Briefen von Freunden ein. In die schmalen Zwischenräumen der beiden Stoffseiten sind kleine Fundstücke, Erinnerungsschnipsel, eingearbeitet. Es sind zarte, fragile, sinnliche Stoffbriefe - ein Kontrast zur virtuellen Handynachricht. Auch Monika Supé setzt Zeichnung in Textiles um: Sie häkelt Skulpturen aus Draht. "Der Draht ist der Strich im Raum", sagt sie. Mit ihren Drahthäkelarbeiten schafft sie dreidimensionale Zeichnungen. Im Erdgeschoss sind so lebensgroße Figuren aus Draht entstanden, die tatsächlich wie gezeichnet wirken: der nach hinten abgeknickte Fuß, die Ferse, die Schraffur in den Kniekehlen. Bei Ina Ettlinger, die bizarre Stoffskulpturen aus ausrangierten Kleidungsstücken schafft, gehen in einer Arbeit Stoff und bedrucktes Papier ineinander über - das Papier wächst förmlich aus dem Stoff heraus und wird zu einem Gemälde. In einem anderen Werk verbinden sich Aquarellmalerei und Stoffstrukturen in einer Collage.

Das Textile trägt ein Thema förmlich auf der Zunge: Stoff als Hülle. Supés großmaschige Drahtskulpturen sind luftig und lassen offen, wo Innen und Außen beginnen. "Die Kleidung ist die einfachste Form der menschlichen Raumbildung", sagt sie, "Kleiderkörper" heißen ihre Arbeiten, die die Frage wortwörtlich in den Raum stellen: Wo endet Kleidung, wo beginnt Körper, was bleibt übrig, wenn wir unsere Hülle abstreifen? Auch Furlan arbeitet mit der Idee des Stoffes als Hülle. Auf einem Foto ist eine Frau im hüfthohen Wasser stehend abgebildet, komplett eingenäht in Organza-Stoff - auf dem Boden vor dem Bild im Ausstellungsraum liegt die Hülle, die sie zurückgelassen hat.

Ina Ettlinger dagegen löst die Hülle, die als Kleidung den Körper umgeben hat, völlig auf und schafft neue Formen: Sie nimmt ein Kleid, eine Trainingsjacke, eine Hose auseinander und setzt sie, ausgestopft, neu zusammen. Dabei lässt sie sich von Mustern und Farben der Kleidungsstücke leiten. So wachsen Stoffskulpturen wie Phantasiewesen in den Raum, verästeln sich und verändern sich, denn sie können immer neu zusammengesetzt werden - Kleidungsstücke verselbständigen sich. Ein Stück des Ursprungs bleibt dabei immer erhalten. Wie bei den Turnern im Dachgeschoss: Aus ausrangierten Trikots, die als solche erkennbar bleiben, hat Ettlinger verrenkte, abstrakte Turner genäht. Sie wirken wie ein ironisches Zitat an Fitnesswahn und Sportkleidung als Modeerscheinung.

Der Betrachter kann viel hineinlesen in die textilen Skulpturen. Er kann sich aber auch einfach faszinieren lassen von der Machart der Werke. Jeder Stich, jede Häkelmasche, der gesamte ausdauernde, hingebungsvolle Entstehungsprozess ist nachvollziehbar. Was Kuratorin von Detten für die Drahthäkelwerke von Supé sagt - dass sie "Zeit speichern" -, stimmt für alle Arbeiten der Ausstellung: Sie machen Zeit erlebbar.

Die Vernissage findet am Freitag, 13. November, um 19 Uhr statt. Die Ausstellung ist bis zum 29. November im Alten Rathaus, Bahnhofstraße 6, zu sehen. Öffnungszeiten sind donnerstags von 17 bis 20 Uhr sowie samstags und sonntags von 15.30 bis 18.30 Uhr. Am Sonntag, 22. November, findet um 16 Uhr ein Künstlergespräch statt.

© SZ vom 10.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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