Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Glühweintrinken im Freien - warum tun sich die Münchner das an?

Für unseren Autor klingt es wie eine Bestrafung: das Ertragen von Kälte und Platznot samt einer übelriechenden und völlig überteuerten Plörre namens Glühwein. Fehlt nur noch ein Wärter mit rasselnden Ketten.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Das adventliche München erschien mir lange wie eine übertrieben aufgebrezelte Braut, die mit Gold und Silber geschmückt ist. Mit glitzernden Sternen verzierte Straßen, wie von Magie angezogen strömen die Stadtbewohner zu den Geschäften - und auf den Marienplatz. Ihre Kleidung ist dick, die Münder dampfen. Und noch etwas dampft.

Die Menschen kommen ja nicht vornehmlich, um sich die schicke Weihnachtsdeko anzusehen und gleich wieder heimzugehen. Nein, die Münchner stellen sich vor Weihnachten wochenlang - freiwillig - für mehrere Stunden bei Minusgraden in die Kälte. Die meisten von ihnen stellen sich zudem in Warteschlangen, um am Ende Geld auf einen Tresen zu legen - im Tausch gegen eine dampfende Tasse. Für den Preis des Inhalts könnte man in Syrien sechs Pfund frisch gemahlenen Kaffee erstehen, je nach Verhandlungsgabe auch etwas mehr. Und dennoch stellen sich die Menschen immer wieder in die Schlange.

Es klingt wie eine Bestrafung: das Ertragen von Kälte und Warteschlangen im Geleit von finanzieller Belastung, garniert mit einer übelriechenden Substanz. Fehlt nur noch ein Wärter, der die Menschen mit rasselnden Ketten vor sich hertreibt. Zuhause ist die Stube doch warm und schön, warum stehen sie draußen in der Kälte herum und bezahlen so viel Geld für diese Plörre?

Wie so oft im Leben hilft eventuell das Ausprobieren. Und so ist schnell festzustellen, dass es den Menschen auch darum geht, sich zu unterhalten. Über dem Marienplatz erstreckt sich seit Ende November ein Sprechdunst wie auf einem Basar. Um bei den Temperaturen allerdings mitreden zu können, braucht es Hilfsmittel. Damit die Sprechmuskeln nicht einfrieren.

Kinderpunsch ist in so einer Situation wie flüssiges Gold. Er wärmt die Hände und den gesamten Körper von innen. Ich spürte gar meine Zehen wieder - und stand nun plaudernd inmitten des Marienplatzes. Wenn wie in diesen Tagen der Schnee taut, kann man sich die teuren Heißgetränke sparen und stattdessen in Lebkuchen und Maroni auf dem Viktualienmarkt investieren.

In Syrien gibt es etwas Ähnliches: Wir feiern das sogenannte Zuckerfest, gehen auf den Markt, kaufen Süßigkeiten und neue Kleidung. Getrunken wird auch, allerdings handelt es sich um Kaltgetränke, weil das Wetter meistens warm ist. Vor allem aber sind die Preise auch für die Allerdurstigsten verträglich.

Warum kommt niemand mit der eigenen Thermoskanne?

Die Münchner empfinden es ja offenbar auch nicht anders. Die Christkindlmärkte sind so voll wie die Zelte auf dem Oktoberfest - und die Besucher teilweise auch. Je größer die Gruppe, desto mehr potenziert sich die Trinklust an den Ständen. Erst recht auf der Theresienwiese, wo die Menschen wie von einem plötzlichen Durst betört tollwütig zum Glühweinstand strömen. Und niemand kommt auf die Idee, seinen Punsch in der eigenen Thermoskanne mitzubringen.

Ich bin auch irgendwie berauscht vom Gehen in der Kälte und vom vielen Schauen, im Kopf wirbeln die Gedanken. 2014 ging ich auf dem Markt in Syrien einkaufen, als plötzlich Raketen einschlugen. Die Leute verließen die Stände und flüchteten. Es konnte sich glücklich schätzen, wer nicht getroffen wurde. Die Explosionsgeräusche. Die Stimmen der Schreienden. Ein Glockenläuten bringt mich zurück ins Jetzt.

Weihnachtsmelodien sind für mich Gefühlsverstärker geworden: dieses Stimmengewirr, die Lichter, die Glöckchen, selbst der schale Duft von Glühwein. Wärter wird man hier vergeblich suchen. Wer Kettengerassel schätzt, wird östlich von München fündig, wenn sie dort die Perchten loslassen.

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