"Ja, eigentlich bin ich 200 Jahre alt", sagt Hermann M. Weil und lächelt verschmitzt. Tatsächlich zählt er gerade mal 78 Lenze - doch wer seine Biografie überfliegt, kann sich kaum vorstellen, dass all das in einem solch überschaubaren Zeitraum passiert sein soll. Weil war einst Inhaber eines Lederwarengeschäfts in Schwabing, hat als Arzt gearbeitet, Motorradreisen veranstaltet und sich zu guter Letzt als Biobauer auf Gut Georgenberg bei Glonn niedergelassen. Außerdem schreibt er Erzählungen. Eigentlich schon immer, wie man so schön sagt, aber nun auch für die Öffentlichkeit.
"Traudls Erinnerungen" heißt sein neuestes Buch - und hinter dem unscheinbaren Titel verbirgt sich ein spannendes Stück Münchner Zeitgeschichte. Weil beschreibt darin das bewegte Leben eben jener Traudl - beispielhaft für das Schicksal vieler Frauen, die die heutige Millionenstadt nach dem Chaos des Zweiten Weltkriegs wieder aufgebaut haben. Kein Zufall also, dass Weil den Erlös aus den Buchverkäufen an den Verein Lichtblick Seniorenhilfe spendet. Und dass der Bayerische Rundfunk die Geschichte in seine Reihe "Heimat hören" aufgenommen hat.

1937 wird Hermann Weils Protagonistin geboren und, weil die Mutter nicht nur Hausfrau sein will, von den Großeltern aufgezogen, und zwar in sehr einfachen Verhältnissen, in einem einsamen Bahnwärter-Häusl in Trudering. Sie erlebt den Krieg - inklusive Feindsender, Bomben und Bunker - und anschließend den wirtschaftlichen Aufschwung. Traudl heiratet ihre Jugendliebe Rudi, gründet mit ihm eine Firma und hat zwei Kinder. Obwohl das Autofahren damals noch ein Privileg der Männer ist, lernt die junge Frau, für das eigene Transportunternehmen einen Lkw zu lenken, später arbeitet sie als Taxifahrerin.
Als Traudl gerade mal 27 ist, stirbt ihr erster Mann. Eine Welt bricht zusammen. Wieder fängt sie von vorn an und arbeitet sich hoch, heiratet erneut und tritt in die Dienste eines deutschen Multimillionärs und Paradiesvogels: Die Münchnerin arbeitet für Arndt von Bohlen und Halbach, Sohn des Stahlmagnaten Alfried Krupp, und erhält so Einblick in ein Jet-Set-Leben zwischen Palm Beach und Marrakesch. Nur leider erweist sich ihr zweiter Ehegatte bald als ein egoistischer Blender, irgendwann steht Traudl erneut vor einem Scherbenhaufen. Und so endet sie schließlich wieder in Trudering, als Verkäuferin in einer Würstel-Bude.
Die Geschichte ist gespickt mit regionalen historischen Details
Nach einem etwas drögen Einstieg erwartet den Leser also ein spannendes Auf und Ab. Aber nicht nur das. Diese Geschichte ist auch gespickt mit erstaunlichen regionalen historischen Details. Denn wer weiß schon, dass der Schatzbogen in Trudering auf eine gleichnamige Schäfer-Familie zurückgeht? Oder dass ein Haus in einem Johanneskirchner Neubaugebiet vor dem Krieg 6500 Mark gekostet hat? Darüber hinaus wächst einem diese Traudl bald ans Herz. Sie erzählt so wunderbar ehrlich von ihrem Leben, ist erfrischend selbstbewusst und immer positiv - trotz aller Entbehrungen. Diese Münchnerin vermag es wirklich, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen. An neuen Gardinen etwa, oder einem heißen Instant-Kaffee.

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Und diese Haltung scheint sie sich auch bis ins hohe Alter bewahrt zu haben. Am Ende des Buches jedenfalls heißt es: "Von Momenten, in denen ich vom Lebensglück beseelt auf Wolken schwebte, bis hinunter zur tiefsten Depression in dunklen Löchern durfte ich alles bis zur Neige erfahren." Deshalb scheine sie, Traudl, ganz im Sinne Goethes ein wahrer "Liebling der Götter" zu sein. "Danke, Leben."

Als "vom Glück geküsst" bezeichnet sich auch Hermann Weil, der Traudls Leben anhand ihrer Erzählungen aufgeschrieben hat. Bis heute steht er in engem Kontakt mit ihr, beschreibt sie als "Kämpferin, die immer aufs Ganze gegangen ist". Doch man muss sagen: Auch Weils eigene Geschichte würde sich vermutlich hervorragend machen zwischen zwei Buchdeckeln. Er habe seine Biografie sogar schon geschrieben, gesteht Weil, auf Wunsch seiner vier Söhne. Doch herausgegeben werden solle dieser Text erst nach seinem Tod, denn: "Ich will ja nicht Gefahr laufen, in irgendeiner Verbesserungsanstalt zu landen."
Im Gespräch auf seiner Terrasse mit Blick aufs Alpenpanorama berichtet der 78-Jährige aber dann doch so einiges, erzählt voller Elan, Witz und auch ein wenig Eitelkeit von seinen Erlebnissen. Von der "wilden, großen" Freiheit im Schwabing der 68er, von seinen Eltern, die ehrliche Kaufleute sind, ihm selbst die Berufswahl aber völlig offen lassen. Tatsächlich will Hermann Weil nach einer Banklehre den Familienbetrieb, ein nobles Mode- und Lederwarengeschäft, gerne übernehmen und schafft es, nebenbei, auf dem zweiten Bildungsweg, BWL zu studieren. Im Laden sei er deshalb allerdings wenig präsent gewesen, "sodass die Verluste irgendwann sehr hoch waren. Zu hoch." Also verkauft er das Geschäft irgendwann - und schlägt eine ganz andere Richtung ein.
Zum Arzt reicht es nicht ganz - also wird Weil Heilpraktiker
Weil folgt einem Interesse, das ihn seit Langem umtreibt: Schon als Kind habe ein Buch über einen ägyptischen Arzt zur Pharaonenzeit in ihm die Begeisterung für Medizin geweckt, erzählt er. "Und da ich nun - trotz fehlendem Abi - ein Vollakademiker geworden war, habe ich angefangen, das zu studieren. Mir standen ja alle Türen offen." Weil kommt dabei auch recht weit. Er habe bereits in einer Münchner Klinik mitgearbeitet, in der Notaufnahme und Anästhesie sehr viel gelernt, erzählt er. Doch kurz vor Schluss werden ihm dann doch die aus der Schulbildung fehlenden Chemiekenntnisse zum Verhängnis - "da ist mir klar geworden: Das schaffe ich nicht". Also wechselt er ins Heilpraktikerfach, erwirbt dort eine Zulassung und eröffnet eine Praxis.
Und weil sich Weil gerne Freunde macht, vom Klinikchef bis zum Hausmeister, gelingt es ihm, schnell Patienten anzulocken. Glucksend vor Freude erzählt er von seinen "Marketing-Tricks", zum Beispiel von am Telefon hörbarem Blättern im Kalender auf der Suche nach dem nächsten freien Termin - obwohl bis dato alle Seiten leer sind. Und die anschließenden Jubelrufe. Außerdem scheint er sein heilendes Handwerk zu verstehen, jedenfalls läuft die Praxis bald recht gut.
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Doch dann sieht Hermann Weil den Film "Easy Rider" - und der beeindruckt ihn so sehr, dass in seinem Kopf eine neue Geschäftsidee reift: "Motorrad-begeisterten Amerikanern unsere Berge zu zeigen, das wäre doch geil!" Jedenfalls schreibt Weil ein solches Konzept - das zufällig auf seinem Tisch in der Praxis liegt, als ein Werbeprofi zur Behandlung kommt. Der muss kurz warten, schnappt sich das Papier und ist sofort begeistert. Er gestaltet für Weil einen Prospekt, mit dem er auf Messen für seine Motorrad-Touren werben kann. Die Assistentin in der Praxis wird angewiesen, sich künftig mit "Zentralvermittlung Weil" zu melden - weil man fortan nie weiß, "ob einer wegen des Mopeds anruft oder wegen der Medizin". Und so geht Weil unter die Reiseveranstalter, obwohl er da selbst gerade mal seit einem Jahr einen Motorradführerschein hat.
Und noch ein glücklicher Zufall kommt ihm dabei zu Hilfe: Einer seiner ersten Gäste ist Florian Trenker, Sohn des Südtiroler Alpinisten und Filmemachers Luis Trenker, "und wir hatten eine Riesen-Gaudi miteinander." So lustig geht es offenbar zu, dass Weil den Bergexperten mit dem berühmten Namen danach als Reiseleiter verpflichten kann. "Das war der Beginn meiner Fahrt auf der Rakete", sagt er und grinst. Irgendwann ruft sogar BMW bei ihm an, zwecks einer Kooperation, die Weil Bikes auf der ganzen Welt und in der Spitze 70 Reiseleiter beschert. Im Zentrum habe aber nicht Luxus gestanden, sondern das echte Erleben von Land und Leuten, betont er. "Das waren Abenteuer in China, Kenia und sonstwo. Ich hab' wirklich vor nix Angst gehabt."

Eine andere Leidenschaft aber schlummert da schon lange in Weil: die Landwirtschaft. Jahrzehntelang sei er vergeblich auf der Suche gewesen nach einem schönen Hof, habe die Sache eigentlich bereits aufgegeben. Doch dann ruft plötzlich eine Maklerin an: Sie habe da etwas gefunden... Und so wird Gut Georgenberg vor knapp 30 Jahren das neue Zuhause von Hermann Weil und seiner Familie. Er verkauft seine Firma und lässt sich erneut ausbilden, zum Schäfer, etabliert eine Bio-Landwirtschaft. Diese hat inzwischen einer der Söhne übernommen; außerdem finden auf dem wunderschön gelegenen und liebevoll restaurierten Hof von 1890 nun regelmäßig Hochzeiten statt. "Das hält uns finanziell am Leben", sagt Weil.
Der 78-Jährige selbst hat sich mittlerweile losgesagt von allen Verpflichtungen, genießt die Ruhe, und steckt all sein Herzblut ins Lesen, Denken, Weiterbilden und Schreiben. Stets sind es Erzählungen mit historischer Basis, denen er sich widmet, Fiktion dient ihm lediglich dazu, Wissenslücken zu füllen. "Traudls Erinnerungen" ist bereits sein drittes veröffentlichtes Buch, das erste war "Die Gasenleitn" über die Geschichte eines Hauses in der Steiermark, das zweite heißt "Die Reise durch Italien - Stationen der Erinnerung".
Obendrein habe er mit dem Klavierspielen angefangen und mit Griechisch, erzählt Weil, allerdings sei Letzteres kaum von Erfolg gekrönt gewesen. "Für manches ist man halt irgendwann doch zu alt", sagt Weil und spricht von großen Versäumnissen, von zu viel vergeudeter Zeit. Etwas, das kaum zu glauben ist, angesichts seiner Biografie voller verrückter Wendungen und glücklicher Momente. Aber vielleicht liegt genau darin Hermann Weils Geheimnis: nie satt zu sein, sondern immer hungrig. Hungrig nach dem Leben.