Giesing:Der sanfte Geschmack von Erdbeermarmelade

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Die Stadtplanerin und Künstlerin Ella von der Haide hat einen Hörspaziergang durch das Viertel entwickelt, der für eine umweltfreundliche Produktion von Lebensmitteln sensibilisieren soll - und auch die hässlichen Begleiterscheinungen der Moderne nicht ausklammert

Von Ekaterina Astafeva und Julia Weinzierler, Giesing

"Erinnern Sie sich an das, was Sie heute als Letztes gegessen haben? War es das Frühstück, Mittagessen oder vielleicht ein Snack? Können Sie sich noch an den Geschmack, an die Konsistenz und an den Geruch erinnern?" Mit diesen Worten beginnt die Audiotour "Biostadt München hörbar". Die Stimme aus dem Kopfhörer führt den Zuhörer auf einer Strecke von 1,5 Kilometern an Orte, wo Gemüse gepflanzt, selbstgebackene Semmeln verkauft und vegan gegessen wird. Die Tour zeigt die Stationen des Essens, vom Acker des Bauern bis zum Schaufenster, die so alltäglich seien, "dass wenig darüber nachgedacht wird", erzählt die Sprecherin.

Der Zuhörer erinnert sich beim Lauschen an die weiche Konsistenz der Frühstückseier, den sanften Geschmack der Erdbeermarmelade und den bitteren Geruch schwarzen Tees. Sobald man in die schönen Erinnerungen eintaucht, folgen prompt weitere Fragen durch die Kopfhörer: "Wissen Sie, wo die Nahrungsmittel, die Sie gegessen haben, gewachsen sind? Wie wurden sie nach München transportiert? Können Sie das komplexe logistische Netzwerk erahnen, das dafür sorgt, dass Sie hier mitten in der Stadt jeden Tag genug Nahrung haben?" Schnell tritt Ernüchterung ein: Bis ins letzte Detail weiß man es wohl meist nicht.

Dieses spezielle Wissen will die kostenfreie Audiotour der Stadtplanerin und Künstlerin Ella von der Haide vermitteln, die von der Stadt München und "anstiftung" unterstützt wird, einer Stiftung, die nachbarschaftliche und regionale Initiativen fördert. In rund eineinhalb Stunden führt die Tour unter anderem zum Grünspitz, vor ein veganes Restaurant, und zu einem herkömmlichen Supermarkt.

Man erfährt, an welchen Orten Münchner selbst Gemüse ziehen, sich biologische Gerichte schmecken lassen oder Komposttoiletten benutzen können. Der Zuhörer verweilt am Auer Mühlbach, läuft an einem griechischen Gemüse- und Obstladen vorbei und legt einen Stopp auf dem Wochenmarkt am Hans-Mielich-Platz ein.

Doch die Tour will nicht nur Orte zeigen, sondern vor allem Bewusstsein schaffen, Alltägliches kritisch hinterfragen. Ein Discounter auf dem Weg etwa verkaufe verschiedene Tomaten: Die einen wachsen nur 100 Kilometer von München entfernt, seien allerdings nicht ökologisch angebaut. Daneben liegen Tomaten mit dem Bio-Siegel, die kämen aber wahrscheinlich aus Spanien. Die Stimme in den Kopfhörern fragt: "Wie würden Sie sich entscheiden?"

Der Zuhörer lernt etwas über Produktion, Handwerk, Esskultur und was man in der Zukunft besser machen kann. "Wenn wir eine andere Welt pflanzen wollen, dann müssen wir das ganze System verändern", ist sich von der Haide sicher. Die Tour widmet sich daher vielen strukturellen Fragen: Wie entsteht möglichst wenig Müll, wie kann dieser sortiert werden? Wie kann eine Stadt versorgt werden, während gleichzeitig die Würde der Tiere gewahrt wird und die Umweltbelastung sinkt? Und wie garantiert man faire Preise und Löhne bei gleichzeitiger Krisentauglichkeit?

Während man der ruhigen Stimme der Sprecherin zuhört, bekommt man aber auch einiges zu tun. Am Grünspitz soll man die alten Bäume berühren, an der viel befahrenen Martin-Luther-Straße versucht man den ehemaligen Bauernhof zu erschnuppern und auf dem belebten Markt lauscht man dem Treiben.

Die schönen Eindrücke aus dem Ohrhörer werden zwangsläufig durch die Realität gestört. Die Straße selbst riecht nicht nach dem Bauernhof, der dort bis 1954 betrieben wurde, sondern nach Benzin und Diesel. Beim Hinabspazieren des Isarhangs liegt Müll zwischen den Pflanzen. Das berühmte Giesinger Bräu war wegen Corona lange zu. Und neben den futuristischen Komposttoiletten auf dem Grünspitz stehen ganz banale blaue Dixi-Klos.

Ella von der Haide ist sich dennoch sicher: München habe das Potenzial, beim Thema Ernährung zur "Vorzeigestadt in Deutschland" zu werden. Auf der Tour schaut man unter anderem durch das Fenster der Kindertagesstätte "Karl und Liesl", wo die Kinder täglich gemeinsam essen. Dieser sogenannten "Außer-Haus-Verpflegung" misst von der Haide einen großen Stellenwert bei. Denn wer im Kindergarten gutes Essen bekomme, der fordere dies womöglich auch daheim ein, erklärt sie. Durch die Nachfrage würde Bio auch für große landwirtschaftliche Betriebe lukrativer werden. Die Stadt gelobt im jüngst verabschiedeten Koalitionsvertrag Besserung und verspricht unter anderem, den Bio-Anteil an Schulen und Kitas bis 2025 auf 100 Prozent zu steigern.

Während des Spaziergangs sieht der Zuhörer gewöhnliche Dinge aus einer neuen Perspektive. Und er erfährt, dass man auf dem Grünspitz nicht nur Bier trinken, sondern auch eine Gemüsekiste abonnieren kann. Dabei entdeckt man neue Lebensmittel und unterstützt zugleich solidarische Landwirtschaft. Und wenn man Lust hat, kann man auch in einem Garten Gurken und Tomaten pflanzen. Dann weiß man nächstes Mal ganz sicher, woher das Gemüse auf dem Esstisch kommt.

Das Audio des Spaziergangs durch Giesing sowie eine interaktive Karte mit den Stationen finden sich im Netz unter www.biomuc.wixsite.com/audiotour. Zur Teilnahme an der Tour wird ein Abspielgerät wie etwa ein Smartphone benötigt.

© SZ vom 11.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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