Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Zu wenig Ärzte, falsch verteilt

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Von Inga Rahmsdorf, München

Philipp Schoof und seine Kollegen nehmen seit einigen Monaten nur noch neue Patienten aus ihrem Stadtviertel auf - sie sehen für ihre Gemeinschaftspraxis in Bogenhausen einfach keine andere Möglichkeit. "Wir schaffen es nicht mehr", sagt der Kinder- und Jugendarzt. Für die nächsten vier Monate sind bereits alle Termine ausgebucht. Dabei ist Bogenhausen nicht einmal einer jener Stadtteile, die über verhältnismäßig wenig Kinderärzte verfügen. Auf einen Arzt kommen hier etwa 1700 Kinder und Jugendliche. In Milbertshofen-Am Hart sind es 11 300. Trotzdem ist Schoofs Praxis völlig überlaufen. Die kinderärztliche Versorgung in München sei am Limit, sagt er.

Dass dringend etwas geschehen muss, weiß auch die Stadt München. Im September 2017 hatte sich der Stadtrat mit der wohnortnahen Versorgung mit Kinder- und Hausärzten befasst. Seitdem fordern die Stadträte, Ärzte durch eine kleinräumigere Bedarfsplanung besser über das Stadtgebiet zu verteilen. Außerdem müssten die Berechnungen, die festlegen, wie viele Mediziner sich in München niederlassen dürfen, dem heutigen Bedarf angepasst werden. Doch die Situation hat sich nicht entspannt, wie aus einem Lagebericht hervorgeht, welcher der SZ vorliegt. Er soll im Oktober im Stadtrat behandelt werden.

Ausgebuchte Terminkalender und volle Wartezimmer erleben Patienten in München nicht nur bei den Kinder-, sondern auch bei den Hausärzten. Die Mediziner stehen immer häufiger vor der Frage, ob sie einen Aufnahmestopp verhängen oder noch mehr Überstunden machen sollen, für die sie aber oft kein Geld erhalten. Gleichzeitig sind die Notaufnahmen überlaufen: Ärzte dort kritisieren, dass immer mehr Patienten wegen Bagatellen in die Klinik kommen. Das Problem kennt auch Kinderarzt Schoof: Bevor Eltern einige Wochen auf einen Termin warten würden, gingen sie lieber in die Notaufnahme.

Die zeitnahe Versorgung akut kranker Kinder sei zwar gewährleistet, heißt es in dem Bericht für den Stadtrat. Die grundlegenden Probleme hätten sich aber nicht geändert: Es gebe zu wenig Haus- und Kinderärzte in München, und die seien zudem nicht gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt. So leben beispielsweise in der Messestadt Riem viele Familien, aber es gibt dort keinen Kinderarzt. Die Situation verschärft sich dadurch, dass die Stadt stark wächst und die Geburtenrate steigt.

Die Stadt selbst hat allerdings keinen direkten Einfluss. Wie viele Ärzte sich in einem Gebiet niederlassen dürfen, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss, oberstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland.

Die städtische Gesundheitsreferentin Stephanie Jacobs und Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) haben im vergangenen Jahr versucht, die Forderungen des Stadtrats in den zuständigen Gremien einzubringen, im Landtag und bei der Gesundheitsministerin Druck zu machen sowie Gespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigung und dem Berufsverband zu suchen. Zudem fördert die Stadt Projekte, welche die Situation entlasten sollen, etwa Gesundheitsberatungsstellen, Schuleingangsuntersuchungen und Familienhebammen. Und sie arbeitet daran, in Kooperation mit Kinderärzten, in Riem wenigstens eine Filialpraxis für Kindermedizin aufzubauen. Doch an den bundesweiten Vorgaben hat sich bisher nichts geändert. Die Stadt München fordert daher, den Kommunen dringend mehr Mitspracherechte bei diesen Themen einzuräumen.

Die Situation sei weiterhin sehr angespannt, sagt auch Brigitte Dietz, Sprecherin vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Einen generellen Aufnahmestopp gebe es in Münchner Kinderarztpraxen zwar nicht, auch würden Neugeborene und akut kranke Kinder zeitnah behandelt, wenn auch nicht immer von einem Arzt in der Nähe; allerdings befürchtet der BVKJ eine Verschärfung der Lage, sollten sich die Krankenkassen nicht zur Finanzierung neuer Praxen entschließen.

Rein rechnerisch ist München sogar überversorgt

Das Absurde ist: Rein rechnerisch ist München sowohl mit Haus- als auch mit Kinderärzten sogar überversorgt. Laut der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) sollten in München 2405 Kinder auf einen Kinderarzt kommen - tatsächlich ist jeder der 156 Ärzte lediglich für 1442 Patienten zuständig. Weil der durchschnittliche Versorgungsgrad besser ist als im Bedarfsplan errechnet, sind keine neuen Praxisniederlassungen erlaubt. Doch diese Zahlen sagen nichts über die Verteilung innerhalb des Stadtgebietes aus. Außerdem basieren sie auf der Bedarfsplanungsrichtlinie aus dem Jahr 1992 - und die, kritisieren Ärzte, sei nicht mehr aktuell. Sie soll nun bundesweit überprüft werden, was auch die KVB begrüßt.

Außerdem haben sich die Anforderungen an Kinderärzte seitdem vollkommen verändert. Im ersten Jahr eines Babys gibt es heute allein vier Vorsorgeuntersuchungen. Auch die Zahl der Impfungen ist gestiegen und im Vorschulbereich sind neue Untersuchungen hinzugekommen. Kann ein Kind wegen Husten oder Durchfall nicht in die Kita, sind die Wartezimmer oft voll, weil Eltern Atteste für ihre Arbeitgeber brauchen. Der BVKJ weist auch darauf hin, dass durch die gestiegene Zahl von Flüchtlingen und Migranten in München die Verständigung oft schwierig und zeitraubend sei. Hier wünscht sich der Verband von der Stadt Unterstützung durch Dolmetscher.

Die Kassenärztliche Vereinigung schlägt vor, bereits niedergelassene Ärzte dafür zu gewinnen, den Bezirk zu wechseln oder Filialpraxen zu eröffnen - was Kinderarzt Schoof für vollkommen unrealistisch hält. Kein Arzt leide in München unter zu wenig Patienten, warum sollte ein Umzug innerhalb der Stadt die Situation entschärfen? Schoof hat selbst auch eine Filialpraxis, um dem Ansturm der Patienten aus Unterföhring gerecht zu werden. Betriebswirtschaftlich rechne sie sich überhaupt nicht. "Es ist ein reines Zuzahlgeschäft", sagt er, "denn die kassenärztliche Medizin ist gedeckelt." Er darf keine weiteren Kollegen einstellen, und wenn er mehr arbeitet, als das vorgegebene Zeitkontingent erlaubt, bekommt er die zusätzliche Leistung nicht bezahlt. Die engen Reglementierungen müssen dringend gelockert werden, fordert der Arzt.

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Quelle:
SZ vom 06.09.2018
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