Gespräch mit einem Contergan-Opfer:"Ich habe Gänsehaut bekommen"

Christian Ruhe ist selbst ein Opfer des Contergan-Skandals - die Verfilmung zu sehen, fiel ihm nicht leicht. Mit uns sprach er über den Film und sein Schicksal.

Claudia Wessel

Heute strahlt die ARD den zweiten Teil des Fernsehfilms "Contergan" von Adolf Winkelmann aus, den die Pharmafirma Grünenthal vergeblich zu verhindern versucht hat. Die SZ sprach mit Christian Ruhe, 45, selbst Contergan-Betroffener und Vorsitzender des Hilfswerks für Gliedmaßengeschädigte, über die Verfilmung der Tragödie.

SZ: Was hat der Film bei Ihnen ausgelöst?

Christian Ruhe: Es gibt schon Szenen, bei denen man eine Gänsehaut bekommen kann. Die Verfilmung hat sehr viel davon gezeigt, was uns unsere Eltern über die damalige Zeit bereits erzählt haben.

SZ: In welchen Momenten haben Sie denn Gänsehaut bekommen?

Ruhe: Vor allem in den Situationen, in denen das Medikament eingenommen wurde. Die Mütter waren ja völlig arglos. Berührt haben mich auch die Szenen, in denen es um den zögerlichen Umgang mit dem Stopp des Medikaments ging. Die Angst der Firma vor sinkenden Umsätzen hat gezeigt, dass es eine teuflische Mixtur war, die verhindert hat, dass es schneller vom Markt genommen wurde.

SZ: Die Firma hat doch versichert, sehr schnell reagiert zu haben.

Ruhe: Es ist ganz schwer, 50 Jahre nach den Vorfällen exakte Daten zu nennen. Das Medikament war jedenfalls so lange im Handel, dass es an die 5000 Geschädigte gegeben hat. Wenn man sieht, mit welcher Geschwindigkeit heute gefährliche Medikamente vom Markt genommen werden, dann gibt es da schon einen großen Unterschied.

SZ: Sie sind ja einer der jüngeren Contergan-Geschädigten. Wäre das Medikament früher gestoppt worden, hätte es Sie vielleicht nicht mehr getroffen.

Ruhe: Viele Betroffene hätten dann Glück gehabt. Wir haben in unserem Landesverband Bayern übrigens auch Contergan-Betroffene, die erst 1968 geboren wurden oder sogar noch Anfang der siebziger Jahre. Die Tatsache, dass man das Medikament zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erwerben konnte, heißt ja noch lange nicht, dass es aus den Badezimmerschränken verschwunden war. Trotz des großen Medienrummels damals gab es offenbar noch Familien, die nicht genügend informiert waren.

SZ: Das kommt in dem Film nicht zur Sprache.

Ruhe: Nein. Leider. Aber es gibt eine beeindruckende Szene, in der der Rechtsanwalt, der sich um die Opfer kümmert, bei seiner Frau Contergan findet und einen ersten Verdacht schöpft.

SZ: Der Held des Films besitzt das Röhrchen noch, aus dem seine Mutter die eine fatale Tablette entnommen hat.

Ruhe: Es wird immer sehr betont, dass eine einzige Tablette ausgereicht hat, um zu Schädigungen zu führen. Der Film zeigt aber auch einen Fall, in dem eine Frau eine Tablette nahm und das Kind keine Schäden erlitten hat. Es hing entscheidend davon ab, in welchem Embryonalstadium die Tablette genommen wurde. Fatal war die Phase, in der die Blutgefäße des Embryos angelegt werden.

SZ: Für einen Betroffenen ist es sicherlich schwierig, so einen Film über das eigene Schicksal zu sehen. Konnten Sie das, weil Sie sich als Aktiver Ihres Verbands schon seit langer Zeit mit dem Thema auseinandersetzen, oder kann jeder Betroffene den Film anschauen?

Ruhe: Das ist ganz schwierig. Ich weiß aus unserem Verband, dass es Leute gibt, die inzwischen über der Sache stehen. Für die zählt das Heute. Wir haben aber natürlich auch Betroffene, die mit ihrem Schicksal hadern, die vielleicht vom Elternhaus her keine Chance hatten, optimal gefördert zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass der Film besonders für die Eltern-Generation nicht einfach ist. Sie haben die Geburt ihrer Kinder und die schwierige Zeit danach hautnah erlebt. Der Film schildert dieses teils sehr drastisch, und so etwas weckt große Emotionen, vielleicht auch Schuldgefühle. Möglicherweise ist das auch eine Erklärung dafür, warum viele Eltern lange nicht mit ihrem Kind über die Ursache der Behinderung sprechen konnten und dies teils auch heute noch nicht können.

SZ: Hat Ihre Mutter es Ihnen frühzeitig erzählt?

Ruhe: Wir haben darüber gesprochen, dass sie von der Gefahr zum damaligen Zeitpunkt nichts wissen konnte.

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