Gesichtsmenschen gesucht:Die stille Kunst des lauten Mannes

Lesezeit: 4 min

Gefühlte Ewigkeit: Hundert Stunden habe er bereits in den ehemaligen Papst Benedikt gesteckt, sagt Nikolai Tregor. Mindestens. (Foto: privat)

Nikolai Tregors Büsten vom Monaco Franze, von Strauß und von Everding stehen in ganz München - aber den Bildhauer selbst kennt keiner

Von Anja Reiter, München

Irgendjemand hat zum Brunch geladen. Er jedenfalls nicht. Nikolai Tregor irrt durch seine Wohnung, die jetzt voller Fremder ist, in der Hand hält er ein Weinglas. Auf seinem Balkon schmieren Leute Brote, es gibt Mozzarella-Balsamico, die Fremden rauchen Joints, trinken Weinschorle, drehen Zigaretten. Tregor kennt diese Leute nicht. Er geht zurück in sein Wohnzimmer, zieht die Jalousien zu und kümmert sich erst mal um den Papst.

Der verdammte Papst. Ein Unternehmensberater hat ihn vor ein paar Monaten bestellt, angeblich ein Mitglied der Freimaurer, sagt Tregor. Aber Benedikt XVI. wurde nie abgeholt, nie bezahlt. Tregor hat trotzdem Tag und Nacht am Papst gearbeitet, an der Nase, den Grübchen, den Augenfalten. Fast schon zärtlich fährt er jetzt an den Wangenknochen entlang. Hundert Stunden hat er bereits in den ehemaligen Papst gesteckt, sagt Tregor. Mindestens.

Es klingelt, neue Fremde kommen. Tregor legt die Metallfeile aus der Hand, mit spitzen Lederstiefeln stakst er in seinen Flur, verteilt Küsschen, Frauen über 30 nennt er "Mutti", Mädchen unter 25 kneift er schon mal in den Po. Die Mädchen kieksen leise, weil sie jetzt irgendwie dazugehören, auch wenn sie gar nicht genau wissen, zu was eigentlich. Wenn man sie fragt, sagen sie, der Tregor ist der "beste lebende Bildhauer Münchens". Was er genau gemacht hat, wissen sie nicht. Und er, der 69-Jährige, ruft den Frauen, die er nicht kennt, zu: "Du siehst aus wie Franz Kafka." Oder: "Wo hast du deinen Waffenschein gelassen?"

Wer ist dieser Mann? Nikolai Tregor hat für die Gedenkstätte der Ludwig-Maximilians-Universität Sophie Scholl gegossen, er hat das Denkmal für Monaco Franze an der Münchner Freiheit modelliert und den Kopf von Franz Josef Strauß für die Bayerische Staatskanzlei. Saddam Hussein saß für Nikolai Tregor Modell, er formte August Everdings Kopf und den von Sergiu Celibidache für den Gasteig. In ganz München stehen seine Kunstwerke herum, nur den Künstler kennt keiner.

Fragt man im Kunstgeschichte-Institut der LMU nach Nikolai Tregor, ist erst mal Ruhe. Tregor? Unbekannt. Andere Experten kennen ihn, doch das scheint ihnen eher peinlich zu sein. Es gibt wohl mehr Menschen, die mit ihm zerstritten sind, als solche, die ihn schätzen. Googelt man seinen Namen, findet man nur ein paar Treffer aus der Lokalpresse, um seine Kunst geht es da eher weniger. Zum Beispiel: "Verkehrskontrolle: 63-jähriger Mann fuhr 27 Jahre ohne Führerschein." Tregor ist das nicht unangenehm; es freut ihn eher, in der Zeitung zu stehen, egal wie. Das habe er wieder gut hingekriegt, sagt er.

Ein Bildband liegt auf seinem Wohnzimmertisch, von 1999 und längst vergriffen: Der Bildhauer Nikolai Tregor, von János Hell und Margarete Matjeka, Epsilon Verlag. Er ist voll mit Skulpturen und Büsten, dazu blumige Beschreibungen. Von der Potenz, der Vitalität und der Manneskraft seiner Kunstwerke ist da die Rede. Tregor spricht lieber von Titten und Tussis. Den Bildband findet er mies.

Nikolai Tregor, geboren in Zug in der Schweiz, wuchs bei seiner Mutter in Bayern auf, steht da drin. Sein Vater war ein erfolgreicher amerikanisch-russischer Bildhauer, modellierte Roosevelt, Truman und Eisenhower. In München machte Sohn Nikolai eine Lehre zum Bronzegießer, später war er einige Semester an der Uni für Medizin eingeschrieben. Zu seiner Familie hat er keinen Kontakt mehr, auch nicht zu seinen Kindern. Nur mit dem Bruder redet er manchmal, der steht auf dem Balkon in Bronze. Der Bruder ist Schauspieler. "Freunde sucht man sich aus, Familie nicht", sagt Nikolai Tregor.

Elektronische Musik wummert aus seinem Wohnzimmer. "Die Musik bitte leiser", schreit eine Nachbarin. "Die Musik bleibt so", schreit Tregor. Er ist ein lauter Mann. Er lacht laut, er spricht laut, wenn er schläft, dann schnarcht er laut. Menschen teilt er in Gesichtsmenschen und N-Gesichter. N steht für Nicht-Gesichter.

Selbst durch seine Wohnung streift er jetzt wie ein Fremder. Alles ist weiß, das Sofa, die Wände, das Bücherregal, die Buchrücken. Die hat er mit Wandfarbe bestrichen. Über seinem Bett hängt ein Penis aus Draht, über der Klotür ein Penis aus Gummi. Überall stehen Drahtskulpturen, Tonmodelle, Bronzegestalten. "Das ist der Doppelarsch", sagt Tregor und deutet auf eine Skulptur mit vier Pobacken.

In der Küche schmiert sich jemand ein Brot, auf dem Balkon fliegen Seifenblasen. So viele fremde Leute. Tregor stakst zurück in sein Wohnzimmer und starrt in die Nasenlöcher des Papstes. "Ich krieche beim Arbeiten in den Kopf hinein", sagt er. Mit seinen Fingern kratzt er im Gesicht von Benedikt XVI. herum. Neben dem Modell liegt ein zerfleddertes Foto des Papstes: gütige Augen, schmale Lippen. Tregor will diesen Ausdruck einfangen.

Lieber als der Papst sind ihm faltenlose Gesichter, aber es schaut nicht so aus, als könnte er sich die Motive noch aussuchen. Der Verfall macht ihm Angst, vor allem der eigene. Ein Abbild müsse man anfertigen lassen, solange man am schönsten ist, sagt Tregor, der sein Selbstportrait modellierte, als er 18 war. Aber gut, der Papst, er porträtiert fast jeden, er braucht das Geld.

Manchmal lässt sich Nikolai Tregor auch einfach so durch die Welt fahren. Einen Führerschein hat er seit vielen Jahren nicht mehr, so stand es ja auch damals in der Zeitung. Dafür hat er ein Smartphone mit vielen Nummern. Heute hat er die Nummer von Ekkehard Pascoe gewählt, ein alter Freund, war mal Lehrer.

Es ist ein schwüler Tag. Pascoe kommt auf die Minute pünktlich. "Ekki ist mein ältester Freund, und der brauchbarste von allen", sagt Tregor. Ekki startet den Wagen, lässt Schwabing und die Leopoldstraße hinter sich. "München ist statuarisch beherrscht von Pferdeärschen", sagt Pascoe, ein Kunsthistoriker, der für die Grünen im Bezirksausschuss Schwabing-Freimann sitzt. Er will den Alt-68ern ein Denkmal setzen. Und ginge es nach ihm, dann sollte Nikolai Tregor diesen Job übernehmen, sozusagen als Alterswerk. Aber die Dinge scheinen nicht nach ihm zu gehen.

Sie fahren jetzt an Münsing vorbei, Oberbayern, Tregor zeigt aus dem Fenster, da, für den Schokoladefabrikanten hat er mal einen Kopf gemacht. Freising, da hat er drei Kinder einer Arztfamilie modelliert. In Ammerland parkt Pascoe den Wagen neben einem Gasthof. Tregor will Saiblinge zum Frühstück. Er wartet im Auto. "Beim Wirt habe ich zu viele Schulden", sagt er. Er klopft mit seinen Fingern auf dem Armaturenbrett. Ekkehard kommt mit einer Tüte voller frisch geräuchertem Fisch zurück.

Mit ein paar Flaschen Wein in der Ikea-Tüte spaziert der Trupp jetzt auf irgendein Privatgrundstück mit Seezugang, Tregor setzt sich auf die Gartenstühle, schenkt Wein ein, isst, sieht kurz glücklich aus, bis die Eigentümerin kommt und sie alle verscheucht, die Fremden. "Die hat ein N-Gesicht!", sagt Tregor. Dann deutet er raus, auf den See, da irgendwo hat er Sophie Scholl versenkt, das Originalmodell der Büste, die heute im Lichthof der Universität steht. Bild war live dabei bei dieser Kunstaktion. "Ein Museum unter Wasser", sagt Tregor. Das mit dem Versenken war Ekkis Idee. Damit er doch noch ein bisschen bekannt wird, sein alter Freund, der Bildhauer Nikolai Tregor.

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: