Gerichtsmedizinische Studie:"Die Alten warten niedergebunden auf den Tod''

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Häufig sterben hilflose Senioren in Heimen, weil sie sich in Gurten oder an Bettgittern strangulieren, sagt die Studie einer Gerichtsmedizinerin.

Sven Loerzer

Auf diesem Tatort-Foto ist kein Blut zu sehen, aber es ist deshalb nicht weniger schrecklich. Die Frau, Ende 70, scheint vor dem Bett zu knien, der Kopf ist auf die Matratze gesunken. Ihr Oberkörper ist eingeklemmt in dem Spalt zwischen dem Bettgitter und der Matratze.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Das hat tödliche Folgen: ,,Brustkorbkompression'', sagt die Rechtsmedizinerin Andrea Berzlanovich zu dem Bild auf dem Computer. Weil der Brustkorb eingeklemmt ist, kommt es zu Atemnot: ,,Die Panik dabei muss ich nicht schildern.''

Das Opfer hatte keine Chance, sich aus dieser Lage zu befreien. Die alte Frau erstickte qualvoll in einem Pflegeheim. Als eine Pflegekraft nach ihr schaute, war sie bereits mehrere Stunden tot.

Allein 28 alte Menschen starben in den letzten zehn Jahren in Zusammenhang mit ,,freiheitsentziehenden Maßnahmen'', 22 in Pflegeheimen, zwei in der eigenen Wohnung und vier in Kliniken. Unter diesem Begriff verstehen Juristen alle Mittel, mit denen die Bewegungsfreiheit von Menschen eingeschränkt oder ganz unterbunden wird: Das kann ein Bettgitter sein, ein Stecktisch, der das Aufstehen aus einem Stuhl verhindert, aber auch ein Gurtsystem, das Menschen ans Bett fesselt.

,,Von den bisher 23 überprüften Fällen lagen insgesamt 16 Mal Fehlanwendungen des Gurtsystems und sechs Mal Fehlanwendungen des Bettgitters vor, nur einmal war das Gurtsystem sachgemäß angebracht worden'', fasst Berzlanovich das deprimierende Ergebnis ihrer bisherigen Auswertung zusammen. Bei den meisten war die Fixierung vom Vormundschaftsgericht genehmigt worden.

Zwei Menschen starben durch ,,Kopftieflage'', dabei rutscht meist der Oberkörper aus dem Bett, der Kopf hängt nach unten. Während Andrea Berzlanovich das berichtet, scheinen sich ihre großen Augen vor Entsetzen noch etwas zu weiten. Auch wenn sie schon Tausende von Leichen, viele übel zugerichtete Opfer gesehen hat, ist ihr immer noch anzumerken, wie furchtbar sie diese Todesart findet: ,,Das dauert am längsten.''

Die meisten fixierten Menschen, 17, starben durch Strangulation, blieben in zu locker angelegten Gurten mit dem Hals hängen. Wenn beide Halsgefäße abgedrückt werden, führe das ,,relativ rasch zur Bewusstlosigkeit''. In der Regel aber ist nur eine Arterie betroffen, ,,dann kann das acht oder zehn Minuten dauern'', geprägt von allergrößter Panik.

,,Es dauert schrecklich lang.'' Wie auch bei der Brustkorbkompression, durch die neun Menschen zu Tode kamen. ,,Alle Fälle haben Polizei und Justiz gesehen'', sagt Andrea Berzlanovich, die für ihre Aufsehen erregende Studie über ,,Todesfälle bei mechanischer Fixierung in Pflegesituationen'' die einschlägigen Obduktionsberichte und die Akten der vergangenen zehn Jahre ausgewertet hat.

In sechs Verfahren kam es zu Verurteilungen wegen fahrlässiger Tötung - Geldstrafen zwischen 90 und 120 Tagessätzen. Sechs Verfahren sind noch nicht abgeschlossen, der Rest wurde eingestellt.

Es ist das Verdienst der 46-jährigen Rechtsmedizinerin, dass die Diskussion über den Einsatz von freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege nun angesichts der tödlichen Folgen wieder neu aufgeflammt ist. Als die Professorin vor zwei Jahren aus Wien an die Universität München wechselte, fiel ihr auf, dass es im Zuständigkeitsbereich des Münchner Instituts für Rechtsmedizin weit mehr Todesfälle nach Fixierungen gab, als in Wien.

,,Ich habe nichts Großartiges getan'', spielt sie ihre Leistung herunter, ,,ich habe nur die Fälle zusammengezählt. Ohne Zahlen kann man kein Problem erkennen.'' Vorher waren es nur bedauerliche Einzelfälle - erst ihre Zusammenführung zu einer Statistik und die Analyse der Ursachen hat den Druck geschaffen, sich mit der Situation fixierter Menschen erneut auseinanderzusetzen.

Fixierung vermeiden

Das Sozialreferat der Stadt predigt ja schon seit Jahren, dass viele Fixierungen entbehrlich wären, weil es Alternativen gibt: Das sind nicht nur absenkbare Betten oder sogenannte Pflegenester am Boden, sondern dazu gehören auch Trainingsprogramme zur Sturzprophylaxe und Hosen mit Hüftprotektoren, die vor dem gefürchteten Oberschenkelhalsbruch schützen.

,,Schicke Schuhe gibt es auch mit flachen Absätzen und rutschfesten Sohlen'', zählt Andrea Berzlanovich weitere wichtige Faktoren auf. ,,Man kann Stolperfallen aus dem Weg räumen und die Lichtverhältnisse verbessern.''

Die Sehleistung zu überprüfen und durch eine Brille zu verbessern gehört ebenso dazu, wie darauf zu achten, dass Gehwägelchen mit Bremsen ausgestattet sind. ,,Man kann da viel verbessern'', sagt die Rechtsmedizinerin. Auch die Ärzte seien gefragt, indem sie mögliche organische Ursachen abklären.

Das gilt besonders auch bei der motorischen Unruhe, die zum Beispiel auf falsche Medikamentengabe zurückzuführen sein kann. Mit der Tagesbetreuung für verwirrte Heimbewohner hat die Stadt außerdem gezeigt, dass durch das von ihr finanzierte zusätzliche Personal bei vielen alten Menschen auf Fixierung verzichtet werden kann.

Die Sozialministerin Christa Stewens hat die Heimaufsichtsbehörden inzwischen gebeten, künftig bei den Heimkontrollen ,,den Schwerpunkt auf die Vermeidbarkeit, Unabweisbarkeit und Suche nach Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen zu legen''. Zusätzlich hat sie einen Wettbewerb gestartet, bei dem Heime ausgezeichnet werden, die bereits Konzepte zur Vermeidung von Fixierung entwickelt haben.

Fesselnde Fürsorge

Oft sind es die Angehörigen, die mit schlechtem Gewissen die Oma ins Heim gebracht haben und dort ,,Druck machen'', die Oma dürfe nicht stürzen, räumt Andrea Berzlanovich ein. Mit der ,,fesselnden Fürsorge'' wollen sich auch die Pflegekräfte absichern.

Dazu spuke in deren Köpfen oft noch die Vorstellung herum, ,,wenn ich fixiere, dann brauche ich mich nicht mehr zu kümmern''. Doch gerade das Gegenteil sei der Fall, ideal wäre eigentlich Blickkontakt. Tatsächlich aber hätten die Opfer der Fixierung im Schnitt drei bis vier Stunden keine Pflegekraft mehr gesehen.

Da stellt sich Andrea Berzlanovich die Frage, ,,was muss aus politischer Sicht passieren, dass nicht nur alle drei bis vier Stunden mal einer vorbeigeht und schaut, ob der pflegebedürftige Mensch noch lebt.'' In einem Fall waren es sogar 12,5 Stunden: Um 16.45 Uhr kam die Pflegekraft zum letzten Mal, dann begann für das Opfer die lange, einsame letzte Nacht, ans Bett geschnallt.

Statt Alternativen auszuprobieren gehe der Trend in den Heimen nach der Veröffentlichung ihrer Studie ,,hin zu noch mehr Sicherheit, noch mehr Gurten'', klagt die gebürtige Wienerin. Doch fixierten Menschen drohen auch bei richtig eingesetztem Bettgitter und Gurt erhebliche Gefahren.

Wer die meiste Zeit des Tages ans Bett gefesselt bleibt, hat ein sehr viel größeres Risiko, sich wund zu liegen, eine Thrombose, Embolie oder Lungenentzündung zu erleiden.

,,Die Menschen werden niedergebunden und warten so auf den Tod'', sagt die Wissenschaftlerin und schüttelt den Kopf. ,,Wir verlängern das Leben der Menschen mit Hilfe der Medizin - und die Konsequenz davon ist, dass wir sie dann anbinden. Das kann es doch nicht sein. Es ist unmenschlich und unwürdig, einen Menschen über Wochen und Monate, oft sogar über Jahre hinweg niederzubinden.''

Bis sie dann elend sterben wie eine alte Frau im Rollstuhl. Ein erschütterndes Bild: Sie ist von der Sitzfläche gerutscht und hat sich im Beckensicherungsgurt stranguliert. Wäre der Gurt entfernt worden, etwa für einen Reanimations-versuch, hätte der Arzt bei der Leichenschau vielleicht sogar einen natürlichen Tod bescheinigt.

Denn die auf einen ,,Angriff gegen den Hals'' hinweisenden Punktblutungen im Gesicht fehlen wie bei dieser Frau in manchen Fällen. Andrea Berzlanovich fordert deshalb eine qualifiziertere Leichenschau, am besten von neutraler Seite nach Wiener Vorbild: Dort unterhält die Stadt einen eigenen Beschaudienst.

Ärzte, die viele Patienten in einem Heim haben, stünden unter dem Druck der Heimleitung, die einen natürlichen Tod für die Bescheinigung erwartet. Und ohnehin bestehe die Tendenz, nicht so genau hinzuschauen bei Älteren.

Diagnose: Altersschwäche

Die Haltung, ,,die haben ihr Leben gelebt'', sei weit verbreitet, sagt Andrea Berzlanovich, die sich in forensischer Gerontologie habilitiert hat. Alte Menschen würden nicht mal mehr für wert befunden, eine Todesursache zu diagnostizieren.

Ihr Ableben wird einfach unter der Diagnose ,,Altersschwäche'' abgebucht. Mehr als 1800 Todesfälle von über 85-Jährigen hat die Wissenschaftlerin dazu akribisch untersucht, ,,alle haben sie eine Todesursache'', ob Lungen-entzündung oder Herzinfarkt, nur eben nicht Altersschwäche. Doch allen Erkenntnissen zum Trotz sei die Altersschwäche in der Internationalen Statistischen Klassifikation der Diagnosen immer noch enthalten.

Aber die Rechtsmedizinerin gibt nicht auf, will auch andere Dunkelfelder ausleuchten: Häusliche Gewalt bei Menschen, die älter als 65 Jahre sind, möchte sie in ihrer nächsten Studie untersuchen. Mit dem Leben im Alter beschäftigt sie sich aus wissenschaftlichem aber auch aus eigenem Interesse. ,,Vielleicht nutzt es einem ja selber etwas.''

Für die Frau, die fast täglich Toten in die Augen schaut, gibt es ,,kein Danach'' - der Tod sei für sie ,,etwas Endgültiges''. Sie habe zwar keine Angst vor dem Tod, aber sie mache sich sehr wohl Gedanken übers Alter und was dann wünschenswert sei: ,,In einer Fixierung möchte ich nicht landen.''

© SZ vom 26.3.2207 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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