Süddeutsche Zeitung

Genossenschafts-Modell:Autos sind nur Untermieter

Ein Wohnprojekt in Gern setzt auf eine "Mobilitätsstation"

Von Marco Völklein

Ein Leben ohne Auto? Für die vierköpfige Familie von Martin Okrslar ist das kein Problem. Einkäufe erledigt sie mit dem Fahrrad samt Anhänger. Für größere Besorgungen oder längere Fahrten greift Okrslar aufs Carsharing-Auto zurück. Dieses steht wie auch der Lastenanhänger direkt in der Tiefgarage seiner Wohnanlage am Reinmarplatz. "Das funktioniert problemlos", sagt Okrslar. Er spart damit nicht nur Geld, sondern auch Nerven: Um Dinge wie Reifenwechsel oder Werkstatt-Checks muss er sich nicht mehr kümmern.

Möglich macht dieses Auto-freie Leben die Wohnungsbaugenossenschaft Wogeno, bei der Okrslar Mitglied ist. Vor gut sechs Monaten ist er zusammen mit 49 weiteren Parteien in die neu errichtete Anlage in Gern eingezogen. Das Besondere daran: Von Anfang an hatte es die Genossenschaft darauf angelegt, möglichst wenige Autos in die Tiefgarage zu locken. Stattdessen wurde zusammen mit dem Carsharing-Anbieter Stattauto eine "Mobilitätsstation" entwickelt: Mieter können dort aus einem Safe die Schlüssel für eines von fünf Carsharing-Autos entnehmen, außerdem die Schlüssel für zwei Pedelecs, zwei Fahrradanhänger sowie ein Lastenfahrrad. Außerdem liegen in dem Safe zwei übertragbare MVV-Jahrestickets bereit. Die Mieter müssen über eine Internet-Buchungsplattform von Stattauto das jeweilige Fortbewegungsmittel reservieren.

Das Konzept geht offenbar auf: Eine Umfrage unter allen 50 Mietparteien zeigt, dass nur noch 19 Haushalte ein Auto besitzen. Vor einem Jahr hatten noch 30 Haushalte ein eigenes Kfz. Und: Weitere sieben Parteien gaben in der Umfrage an, ihren Privat-Pkw bis Ende des Jahres 2017 abschaffen zu wollen. Wogeno-Projektleiter Christian Stupka sieht die Gerner Wohnanlage als Vorbild: Seiner Ansicht nach "muss sich der Mobilitätsmix in dieser Stadt radikal ändern", andernfalls "werden wir im Autoverkehr ersticken". Wohnprojekte wie das in Gern mit seinem "integrierten Mobilitätskonzept" solle es viel öfter geben, findet Stupka.

Bislang allerdings müsse man sich bei jedem Wohnobjekt "ein aufwendiges Ringen mit der Stadt" liefern, ergänzt Wogeno-Vorstand Peter Schmidt. Denn eigentlich schreibt die städtische Stellplatzsatzung vor, dass für jede neu errichtete Wohnung jeweils ein Kfz-Stellplatz errichtet werden muss. "Und wo solche Stellplätze entstehen, da werden sie auch genutzt", sagt Stupka. So entstehe ein Teufelskreis. Viel schlimmer allerdings aus Sicht der Genossenschaften ist, dass der Bau eines solchen Stellplatzes im Schnitt etwa 20 000 Euro kostet - was unterm Strich dann wieder die Baukosten insgesamt erhöht. Nicht nur die Wogeno-Leute, sondern auch Vertreter anderer Genossenschaften sowie der großen städtischen Wohnungsbaugesellschaften GWG und Gewofag hatten daher zuletzt gefordert, diesen "Stellplatzschlüssel" abzusenken - von 1,0 auf beispielsweise 0,5 oder sogar noch weiter. Am Reinmarplatz gelang es den Wogeno-Leuten tatsächlich den Schlüsselwert auf 0,5 zu drücken. Die Genossen mussten also nur für jede zweite Wohnung einen Stellplatz errichten. "Und das reicht völlig aus", sagt Projektleiter Stupka. "Andernfalls hätten wir viel Geld sinnlos verbuddelt."

Zuletzt hatten die Grünen im Stadtrat einen entsprechenden Vorstoß gestartet und die Absenkung des Stellplatzschlüssels gefordert. Auch Stadtbaurätin Elisabeth Merk hatte sich offen für solche Überlegungen gezeigt. Konkrete Vorschläge will das Planungsreferat dem Stadtrat voraussichtlich im Oktober unterbreiten, wie ein Sprecher sagte. Die beiden größten Fraktionen zeigen sich ohnehin abwartend bis ablehnend dem Vorschlag gegenüber: So wird es eine "pauschale Absenkung" des Schlüssels mit der CSU nicht geben, wie deren Fraktionschef Hans Podiuk sagt. Schließlich gebe es die Regelung, um zu verhindern, dass "stadtweit die Autos auf der Straße stehen". Auch SPD-Fraktionschef Alexander Reissl plädiert für einen "pragmatischen Ansatz" und will eine Absenkung des Schlüsselwerts immer von den jeweiligen Gegebenheiten abhängig machen - also beispielsweise davon, ob ein Wohngebiet mit Bussen und Bahnen gut erschlossen ist. Ob es Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe gibt. Oder ob hauptsächlich Geringverdiener einziehen sollen, von denen sich viele eh kein eigenes Auto leisten können. "Diese Möglichkeiten hat die Stadt heute schon", sagt Reissl.

Tatsächlich aber sei eine deutliche Reduzierung der verlangten Stellplätze bei nahezu jedem Objekt bislang mit "erheblichen Diskussionen" mit der Genehmigungsbehörde verbunden, sagt Wogeno-Vorstand Schmidt. Und eben damit, ein umfassendes Mobilitätskonzept mit Carsharing-Autos, Leihrädern und übertragbaren MVV-Fahrkarten bereitzustellen. Stattauto-Chefin Petra Klier glaubt dennoch, dass sich solche Modelle künftig ausbreiten werden. Bislang betreibt sie stadtweit 16 Mietautostationen in Anlagen von Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften. Und wie viele werden es in ein paar Jahren sein? "Eine konkrete Zahl kann ich da schwer nennen", sagt Klier. "Aber es ist noch Luft nach oben."

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SZ vom 21.08.2015
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