Süddeutsche Zeitung

Gelähmte 21-Jährige:Niemand will Reha bezahlen

Lesezeit: 3 min

Muska Nadem kann eine Körperhälfte kaum bewegen. Das Klinikum Großhadern vermutet, dass ihre Lähmung einen psychosomatischen Grund haben könnte - bei der Arbeit erlebte sie einen Überfall. Jetzt ist die junge Frau ein Pflegefall, doch eine Reha will niemand bezahlen.

Von Sophia Münder

Es sind genau 17 Treppenstufen, die zu Muska Nadems Wohnung im ersten Stock führen. 17 Stufen, die sie nicht mehr alleine gehen kann. Wenn die 21-Jährige das Haus in Giesing verlassen möchte, muss sie die Treppe rauf und runter getragen werden. Denn Muska kann ihre linke Körperhälfte kaum bewegen.

"Vertebralisdissektion rechts" und "1/5 Parese am linken Bein und Arm", lautet die Diagnose des Klinikums Großhadern. Als Ursache für die Lähmung vermuteten die Ärzte zuerst einen Schlaganfall, dieser Verdacht hat sich aber nicht bestätigt. "Die Ärzte glauben, dass es einen psychischen Grund für meine Lähmung gibt", sagt das zierliche Mädchen.

Anfang dieses Jahres wollte Muska ihr Fachabitur machen, danach eine Ausbildung bei der Stadtsparkasse beginnen. Neben der Schule arbeitet sie damals als Verkäuferin bei einer großen Modekette. Am 25. März läuft sie die Rolltreppe zur Arbeit hoch, als ihr Nacken schmerzt. "Ich dachte, dass es vom Kassieren kommt, denn in der vorigen Woche hatte ich eine Kassenschulung", sagt sie. Dann wird ihr schwindlig, Muska verliert das Bewusstsein.

Als sie wieder aufwacht, stellt sie die Veränderung an ihrem Körper fest: "Ich habe gemerkt, dass meine linke Seite nicht mehr funktioniert." Sie wird ins Harlachinger Krankenhaus gebracht. Ein Arzt sagt, Muska solle sich keine Sorgen machen: "Das wird schon. Wie es gekommen ist, wird es auch wieder weggehen." Aber die Lähmung geht nicht wieder weg.

Zwei Wochen später wird Muska nach Hause entlassen, ohne Rollstuhl. "Mein Vater hat mich zum Taxi getragen und vom Taxi dann hierher. Wir haben kein Auto", erzählt Muska. Den Rollstuhl hat sie erst vom Hausarzt verschrieben bekommen. Mit Muskas Heimkehr beginnt ein nicht enden wollender Bürokratie-Marathon. Denn das Klinikum Harlaching, in dem sie anfangs behandelt worden ist, überweist sie an das Klinikum rechts der Isar. Dort soll Muska eine ambulante Weiterbehandlung antreten. Da aber Muskas Hausarzt und ein Neurologe der Meinung sind, dass ihr nur eine Reha helfen kann, beantragen sie sofort eine solche Maßnahme und raten ihr dazu, sich noch einmal im Klinikum Großhadern untersuchen zu lassen.

Kollegin wurde angeschossen

Das Klinikum Großhadern vermutet, dass Muskas Lähmung einen psychosomatischen Grund haben könnte. Denn wenige Wochen vor ihrem Unfall hat Muska einen Überfall in der Filiale miterlebt, in der sie gearbeitet hat. Dabei wurde eine Kollegin von ihr angeschossen. Deshalb rät das Klinikum Großhadern ebenfalls von einer ambulanten Heilbehandlung ab und beantragt eine stationäre Reha.

Die Reha-Klinik lehnt den Antrag ab, mit der Begründung, dass die Beeinträchtigung der Patientin nicht zu den Krankheitsbildern passe, die man behandle. Und das Klinikum Großhadern verweist wieder auf den Hausarzt, der ebenfalls eine Reha-Behandlung fordert - es dreht sich im Kreis.

Doch selbst wenn Muska eine Reha-Klinik findet, bleibt das Problem der Finanzierung. Vor ihrer Erkrankung sei Frau Nadem erwerbstätig gewesen, weshalb für Reha-Maßnahmen grundsätzlich die Deutsche Rentenversicherung (DRV) zuständig sei, heißt es bei der AOK. Die Rentenversicherung wiederum vertritt die Auffassung, dass Muska eine Reha-Behandlung nicht helfen würde und empfiehlt einen Krankenhausaufenthalt. "Diese Maßnahme gehört nicht zu den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung erbringt", heißt es in dem Bescheid.

Im Alter von acht Jahren ist Muska Nadem mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Um hier "Freiheit und eine bessere Zukunft zu haben", wie sie sagt. Sie bekommt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. In ihrer Freizeit geht sie mit ihren Freundinnen shoppen oder Kaffee trinken, tanzt Hip-Hop, Bollywood und Freestyle.

Doch das war in einem früheren Leben. Nach ihrem Zusammenbruch ist Muska ein Pflegefall - eingestuft in Pflegestufe zwei. Manchmal holen Freundinnen sie ab und bringen sie an die Isar. "In die Stadt möchte ich nicht, weil ich mich unwohl fühle", sagt sie. Aber Muska gibt die Hoffnung nicht auf: "Ich habe den Führerschein und die Schule fast fertig gemacht, ich habe so viel noch vor mir."

Und sie hat Glück. Ein Osteopath erklärt sich bereit, sie kostenlos zu behandeln, nachdem er von ihrem Fall erfahren hat. Seit August fahren Freunde Muska samstags und sonntags zu ihm nach Traunstein. Die Fahrten sind aufwendig und teuer, aber die Behandlung scheint anzuschlagen. Mittlerweile kann Muska sich mit dem rechten Arm hochziehen und für kurze Zeit stehen und sogar ein bisschen gehen. "Ich bin noch sehr wackelig auf den Beinen", sagt sie. "Jetzt bin ich wieder voller Energie und gebe nicht auf."

Trotzdem setzt Muska weiter auf die Reha-Behandlung. "Ich mache kleine Fortschritte, aber ich brauche noch Zeit und weitere Unterstützung." Gegen den Bescheid der Rentenversicherung hat sie Klage beim Sozialgericht eingereicht. Die Entscheidung steht noch aus. Außerdem prüft die Berufsgenossenschaft ihren Fall. Denn wenn die plötzliche Lähmung tatsächlich auf den Überfall in der Filiale zurückzuführen ist, in der Muska Nadem gearbeitet hat, übernimmt die Berufsgenossenschaft die Reha.

Bis dahin hofft die junge Frau jedesmal darauf, dass jemand Kräftiges im Haus ist, wenn sie wieder einmal die Treppe rauf oder runter muss. Sonst müssen sie ihre beiden Schwestern tragen - sie sind 13 und 16 Jahre alt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1805951
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.10.2013
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.