Süddeutsche Zeitung

Gedenken:München soll den Opfern der Nazis ins Gesicht sehen

  • Lange hat es in München Streit über die Verlegung von Stolpersteinen gegeben.
  • Nun wird in der Stadt in einer anderen Form der Opfer der NS-Diktatur gedacht: mit Stelen und Gedenktafeln an deren Wohn- und Arbeitsorten.
  • Der Terror des Regimes richtete sich gegen Juden, politische Gegner, psychisch Kranke und andere.

Von Jakob Wetzel

Wer Ludwig Holleis in die Augen sehen will, wird nahe herantreten müssen. Vor dem Haus an der Daiserstraße in Sendling, wo der Ermordete einst wohnte, wird von Freitag an eine Stele an ihn erinnern, darauf eine vergoldete Hülse, sechs Zentimeter breit und sechs hoch. Ein Porträtbild wird zu sehen sein, auf dem der Mann fast überrascht in die Kamera blickt, sein Haar ist gescheitelt, der Mund leicht geöffnet.

Dazu gibt es ein paar Daten: Im Januar 1944 wurde er verhaftet, knapp drei Monate später war er tot, er starb durch Folter. Ludwig Holleis wurde 36 Jahre alt. Mehr wird man an der Stele nicht erfahren. Doch wer wissen möchte, wer dieser Mann gewesen ist, der kann die Biografie des zu Tode Gequälten künftig im Internet nachlesen - und die Stele soll Passanten von weitem darauf aufmerksam machen, dass hier früher einer lebte, der von den Nazis umgebracht worden ist. Sie soll die Menschen in ihrem Alltag dazu bringen, näherzutreten.

Holleis ist einer der ersten, denen die Stadt München einen solchen Erinnerungsort widmet. Drei Jahre ist es her, seit der Stadtrat nach einer erbittert geführten Debatte entschieden hat, im Gedenken an die Opfer der Nazis einen eigenen Weg zu gehen und die sogenannten Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig in München auch weiterhin nicht auf öffentlichem Grund zu erlauben. Vor einem halben Jahr dann hat sich der Stadtrat für eine Alternative zu den umstrittenen kleinen Bodenplatten entschieden. Jetzt werden die ersten dieser Erinnerungszeichen der Öffentlichkeit übergeben.

Die Entwürfe stammen von dem Münchner Designer Kilian Stauss. Vorgesehen sind zwei Varianten: Da sind einmal etwa zwölf Zentimeter hohe und breite Wandtafeln aus vergoldetem Edelstahlblech, in die Buchstaben sowie rasterartige Porträts gebrannt werden sollen. Kann ein solches Schild nicht angebracht werden, weil zum Beispiel der Hauseigentümer nicht einverstanden ist oder weil es an der Wand keinen geeigneten Platz gibt, kann alternativ auch eine etwa 1,80 Meter hohe Edelstahl-Stele mit vergoldeter Hülse errichtet werden wie bei Holleis.

Den Anfang machen nun zwei Wandtafeln und vier Stelen. Sie wurden in der vergangenen Woche und am 5. August an verschiedenen Orten in München enthüllt, jeweils dort, wo die Ermordeten gelebt und gearbeitet haben: in Schwabing und Sendling, in der Maxvorstadt, im Herzogpark in Bogenhausen und in der Isarvorstadt. Zur Übergabe wollen nicht nur Vertreter des Stadtrats kommen, sondern auch Angehörige und Repräsentanten verschiedener Opferverbände. Denn die ersten Wandtafeln und Stelen werden nicht nur an vier ermordete Jüdinnen und Juden erinnern, sondern auch an einen katholischen Widerständler, an ein Opfer des nationalsozialistischen Krankenmordes, an eine Zeugin Jehovas und an den bereits erwähnten Holleis, der letztlich umgebracht wurde, weil er der Bruder einer Widerstandskämpferin war.

Mit den Zeichen will die Stadt dezentral und individuell an die Ermordeten erinnern: An die Opfer soll nicht als Einträge in einer Liste erinnert werden, sondern als jeweils einzigartige Menschen. Damit sollen die Elemente dasselbe leisten wie die Stolpersteine, anders als diese aber nicht im Straßenbelag, wo Passanten möglicherweise auf den Namen der Opfer herumtrampeln könnten, wie Stolperstein-Gegner geklagt hatten, sondern auf Augenhöhe.

Davon abgesehen ähneln die Stelen und Tafeln in Farbe, Form und Text den ebenfalls goldfarbenen Stolpersteinen, bieten aber mehr Platz, welcher vor allem für Porträts der Ermordeten genutzt wird. Designer Stauss setzte bei seinem Entwurf gezielt auf Fotografien: Dass an dem jeweiligen Ort ein Mensch aus dem Leben und seiner Familie gerissen wurde, dem könne man sich beim Blick auf dessen Gesicht am wenigsten entziehen.

Auch dieses Konzept ist freilich nicht unumstritten: Es ist gerade die Ähnlichkeit zu den Stolpersteinen, die Kritiker wie den Verein "Respect & Remember" um Gabriella Meros stört, der sich ebenfalls für ein würdiges Gedenken einsetzt. Der Wettbewerb und das Vergabeverfahren seien intransparent gewesen, klagte der Verein am Dienstag. Vor allem aber habe München die Chance verpasst, ein eigenständiges Projekt zu entwickeln, das sich von den Stolpersteinen klar abhebe.

Schuld daran sei nicht der Designer, dessen Fotos eine "wunderbare Idee" seien, sondern die Vorgaben aus dem Kulturreferat: Die seien "eine Steilvorlage zu einer Anlehnung an die Stolpersteine" gewesen. Außerdem kritisiert der Verein, die neuen Erinnerungszeichen würden zu wenige Informationen vermitteln; dabei könnten nur Informationen Empathie wecken. Dies sei in Zeiten des wachsenden Antisemitismus bitter nötig.

Im Beschluss des Stadtrats von Oktober 2017 heißt es dazu: Ob ergänzende Informationen Platz finden sollten, solle im Einzelfall ein Fachbeirat prüfen. Auf dem beengten Platz der Wandtafeln und Stelen zusätzlich zu Namen, Geburtsdatum und Herkunftsort sowie den Angaben zur Ermordung noch weitere Informationen unterzubringen, sei aber technisch schwierig, sagt Barbara Hutzelmann von der Koordinierungsstelle für die Erinnerungszeichen im Stadtarchiv. Für ausführliche Biografien wurde dafür im Internet Platz geschaffen, wo die Schicksale nachzulesen sind. Schließlich sollten nicht die Verfolgung und der Tod der Menschen im Vordergrund stehen, sondern deren Leben in der Münchner Gesellschaft, heißt es aus dem Stadtarchiv.

Die Tafeln und Stelen sind aber nur ein Element, mit dem München der Nazi-Opfer gedenken will. Seit 2015 ist auch ein zentrales Mahnmal geplant. Die Rede war zuletzt von einer Mauer, an der die derzeit etwa 5000 bekannten Namen aller Opfer stehen sollten. Was umgesetzt wird und wo, darüber berate der Stadtrat im Herbst, heißt es aus dem Kulturreferat.

Bis dahin soll es mit dem Projekt des dezentralen Erinnerns gut vorangehen. Es gebe schon mehr als 40 Anträge für Tafeln und Stelen, sagt Barbara Hutzelmann. Sie ist überzeugt: "Das Projekt wird sich gut etablieren." Beantragen kann man ein Erinnerungszeichen bei ihrer Koordinierungsstelle im Stadtarchiv, wo dann Historiker bei der Recherche helfen. Wer die Kosten trägt, wird von Fall zu Fall geklärt. Die Stadt hat 150 000 Euro Fördergeld bereitgestellt. Derzeit würden die Gedenkelemente noch hergestellt, deshalb gebe es noch keinen verbindlichen Preis, sagt Hutzelmann. Eins sei aber sicher: "Das Gedenken wird nicht am Geld scheitern."

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Quelle:
SZ vom 25.07.2018/vewo
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