Jahrestag der Hamas-Attacke:„Wir konnten uns nicht vorstellen, dass so etwas möglich war“

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Seither gebe es ein Davor und ein Danach, sagte IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch in der Münchner Synagoge beim Gedenken an den Terrorangriff der Hamas auf Israel vor einem Jahr. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Der Anschlag der Hamas auf Israel habe wie ein Funke auch in der Diaspora viele Feuer entzündet, sagt IKG-Präsidentin Knobloch beim Gedenken in der Münchner Synagoge.

Von Martin Bernstein, Justin Patchett

Zwischen 8000 und 10 000 Münchnerinnen und Münchner sind am Sonntag auf die Straße gegangen, um gegen Antisemitismus und für die Freilassung der israelischen Geiseln aus den Händen der Terrororganisation Hamas zu demonstrieren. Am Montagabend, am Jahrestag des Überfalls auf Israel, gedachten die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) und die Stadt München in der Synagoge Ohel Jakob der Opfer. Eine Münchnerin, die das Hamas-Massaker überlebt hat, sollte dort sprechen.

Dafna Gerstner ist im Kibbuz Be’eri aufgewachsen. Am 7. Oktober vor einem Jahr war sie dort zu Besuch bei ihrem Bruder, als die mörderische Attacke begann. Sie und ihr Mann überlebten den Terror im Schutzraum, ihr Bruder – Mitglied der Sicherheitswacht im Kibbuz – wurde ermordet. Und mit ihm weitere hundert Menschen aus Be’eri.

SZ PlusGedenken an den 7. Oktober
:Wie eine Frau aus München den Hamas-Terror in Israel überlebt hat

Dafna Gerstner besuchte ihren Bruder im Kibbuz Be’eri. Dort verübten Terroristen am 7. Oktober 2023 ein Massaker. Bei der Münchner Gedenkfeier berichtet die 40-Jährige.

Von Martin Bernstein

Vor Dafna Gerstner sprachen am Abend beim Gedenken in der Synagoge zahlreiche Vertreter aus Politik, Kirchen und Gesellschaft. IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch hob hervor, was der 7. Oktober für die jüngere jüdische Geschichte bedeute. Seither gebe es ein Davor und ein Danach. „Eine neue jüdische Generation wurde an diesem Tag mit einer alten Realität konfrontiert: einem Pogrom“, sagte die fast 92 Jahre alte Shoah-Überlebende. „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass so etwas möglich war – noch dazu in Israel.“

Der mörderische Judenhass der Hamas wirke „wie ein Funke, der in der Diaspora viele Feuer entzündet hat“, sagte die Münchner Ehrenbürgerin. „Auch in München auf dem Professor-Huber-Platz.“ Das anti-israelische Zeltlager dort verbreite seit fast einem halben Jahr „Hass und Lügen“. Knobloch: „Mir bleibt nur wütendes Unverständnis darüber, dass die Verantwortlichen des Staates gegen diese Provokation machtlos sein sollen.“

Münchens dritte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) sprach in Vertretung des an Corona erkrankten Oberbürgermeisters Dieter Reiter (SPD) den Geiseln, den Familien und Hinterbliebenen der zahlreichen Opfer des Terrorangriffs vom 7. Oktober ihr Mitgefühl aus. „Auch allen Münchnerinnen und Münchnern, denen dabei geliebte Menschen entrissen wurden oder die noch immer um verschleppte Angehörige sowie Freundinnen und Freunde bangen, gilt unser tiefes Mitgefühl und unsere volle Solidarität.“

Redner und Gäste in der Ohel-Jakob-Synagoge in München. (Foto: Florian Peljak)

Die israelische Generalkonsulin für Süddeutschland, Talya Lador-Fresher, bezog sich in ihrer Rede auf das Münchner Olympiaattentat im Jahr 1972. „Wenn wir bei zwölf Ermordeten von einem Massaker sprechen, welchen Begriff sollen wir dann für das verwenden, was sich am 7. Oktober 2023 im Süden Israels zugetragen hat, als 1200 Menschen abgeschlachtet wurden?“, fragte die Diplomatin. „Mega-Massaker? Jahrhundert-Massaker?“

Man habe es seit Anfang 2024 „mit einer bizarren Täter-Opfer-Umkehr zu tun, die aus einer gefährlichen Mischung aus Naivität, Ignoranz und Judenfeindlichkeit“ resultiere. Die dramatische Zunahme der antisemitischen Stimmung sei am 5. September – „auf den Tag genau 52 Jahre nach der Terrorattacke auf unsere Olympiamannschaft“ – in den Terroranschlag auf das Generalkonsulat gemündet. „Unsere Dankbarkeit gilt der Polizei, die schnell und professionell reagiert hat“, so Lador-Fresher.

Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der tags zuvor auf dem Odeonsplatz sein Schutzversprechen für Jüdinnen und Juden in Bayern erneuert hatte, sagte: „Israel braucht keine Ratschläge, Israel braucht unseren Beistand.“ Er forderte eine andere Iran-Politik und betonte: „Israels Aktionen gegen Hamas und Hisbollah verdienen unseren Respekt.“

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (von links), Charlotte Knobloch und die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner beim Gedenken an den Terrorangriff der Hamas in München. Dahinter: Bürgermeisterin Verena Dietl und Bayerns Justizminister Georg Eisenreich. (Foto: Florian Peljak)

Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) sagte, das Pogrom vom 7. Oktober sei „ein Startschuss für Antisemiten auf der ganzen Welt“ gewesen. Das Versprechen „Nie wieder!“ sei gebrochen worden. Aigner: „Wenn Juden in Deutschland nicht sicher leben können, kann niemand in Deutschland sicher leben.“ Außerdem sprachen am Montagabend der US-Generalkonsul James Miller, Kardinal Reinhard Marx, der evangelische Landesbischof Christian Kopp sowie Ludwig Spaenle, der bayerische Beauftragte gegen Antisemitismus.

Auch „Palästina spricht“ ging in München auf die Straße

Spaenle war am Sonntag selbst Augen- und Ohrenzeuge, als pro-palästinensische Gegendemonstranten den schweigend durch die Brienner Straße ziehenden Demonstranten in Sprechchören entgegenschrien, sie seien „Faschisten“, „Rassisten“ und Unterstützer von „Kindermördern“. Die von der Gruppierung „Palästina spricht“ mobilisierten 1200 Gegendemonstranten stimmten Rufe nach einem Ende des jüdischen Staates Israel an.

„Palästina spricht“ ging auch am Montagabend in München auf die Straße. Zur gleichen Zeit, zu der in der Synagoge der Terroropfer gedacht wurde, erinnerte die Gruppierung an „76 Jahre Widerstand“. Eine städtische Sprecherin hatte am Nachmittag angekündigt: „Das Kreisverwaltungsreferat wird auch die heutigen Versammlungen beobachten und sich eng mit der Münchner Polizei abstimmen.“

Die Beobachter erlebten ähnliche Szenen wie tags zuvor. Erneut richteten sich Sprechchöre gegen die Existenz eines jüdischen Staates Israel. Eine Rednerin sagte unter großem Beifall der 150 Teilnehmer: „Wir erkennen kein Existenzrecht an, wenn es Unterdrückung bedeutet.“ Erneut wurden „Zionisten“ als „Kindermörder“ bezeichnet. Auf Instagram rechtfertige „Palästina spricht“ am Abend den Terrorüberfall der Hamas: „Vor einem Jahr hat Gaza seine Ketten gesprengt.“ Die Generalstaatsanwaltschaft sieht darin den Anfangsverdacht einer Billigung von Straftaten und wird Ermittlungen einleiten.

50 Freiwillige wie Efrat Friedland lesen auf dem Marienplatz die Namen von 1654 ermordeten israelischen Zivilisten und getöteten Soldaten. (Foto: Florian Peljak)

Unterhalb der israelischen Fahne, die vom Münchner Rathaus weht, waren am Montag 1654 Namen verlesen worden – von Zivilisten, die am 7. Oktober von der Hamas ermordet wurden, sowie von getöteten Soldatinnen und Soldaten. Charlotte Knobloch sagte dort trotz der judenfeindlichen Beschimpfungen vom Vortag: „Ich hoffe, dass die Menschen wieder mit einem freundlicheren Gesicht zu uns sehen.“

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