Süddeutsche Zeitung

Weltkrebstag:Frau Bichler und ihr Beifahrer

Lesezeit: 5 Min.

Den Tumor an ihrer Zunge erkannten die Ärzte lange nicht. Doch Josefine Bichler blieb hartnäckig - und erhielt die Diagnose Zungenkrebs. Über eine Gautingerin und ihren Weg zurück ins Leben.

Von Ann-Marlen Hoolt, Gauting

Es war Dezember, als Josefine Bichler ein weißliches Bläschen an ihrer Zunge entdeckte. Sie dachte sich nichts dabei. Ihr Zahnarzt vermutete eine Entzündung, ihre Hautärztin verschrieb auf Nachfrage Cortisol. Als es nicht besser wurde, empfahl ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) Essigtinktur. Der Februar des vergangenen Jahres kam, das linke Auge der Gautingerin begann zu tränen. Der Augenarzt konnte nicht helfen, ihr HNO machte einen Abstrich, doch ohne Ergebnis. Inzwischen hatte Josefine Bichlers Zunge zu brennen begonnen. Sie war sich sicher: Irgendwas stimmt nicht.

Erst im März fand ein Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurg schließlich die Lösung. Nach verschiedenen Scans und einer Biopsie, bei der eine Probe ihrer Zunge entnommen und untersucht wurde, war es klar: In Josefine Bichlers Mund wuchs ein Tumor. Sie hatte Zungenkrebs.

Unter Ärztinnen und Ärzten gilt Krebs schon lange als Volkskrankheit, sie stellen deutschlandweit etwa 500 000 Krebsdiagnosen pro Jahr. Besonders häufig betroffen sind Brustdrüsen und Prostata, der Dickdarm oder die Lunge. Die Krebsart, an der Josefine Bichler erkrankte - eine Form des Mundhöhlenkarzinoms - ist seltener. Etwa 10 000 Menschen erkranken daran im Jahr, der Großteil sind Männer.

"Gerade bei der Zunge erkranken inzwischen aber auch immer mehr Frauen oder Patienten, bei denen wir keine offensichtlichen Risikofaktoren sehen", sagt Professor Denys Loeffelbein, Chefarzt der Mund-, Kiefer und plastischen Gesichtschirurgie am Helios-Klinikum München-West. Er ist Josefine Bichlers behandelnder Arzt, "ihr Held", so sagt sie das. Loeffelbein sieht bei seiner Arbeit immer wieder Krebstumore im Mund. Sie können sich schnell ausbreiten. Mal sind die Wangen betroffen, mal die Lippen und mal eben die Zunge. "Für das Überleben eines Patienten ist es besonders wichtig, dass die Diagnose früh gestellt wird", sagt der Chirurg. Dann liege die Überlebensrate bei etwa 80 Prozent. Aber eben nur dann.

Die Krankheit muss auch emotional verarbeitet werden

Aus ihrem Umfeld wusste Josefine Bichler, wie wichtig es ist, auf das eigene Bauchgefühl zu hören und dranzubleiben. Dadurch hatte sie Glück im Unglück. Ihr Tumor wurde rechtzeitig entdeckt und konnte vollständig entfernt werden, obwohl es gedauert hat bis zur Diagnose. Wäre sie nicht so hartnäckig geblieben, hätte es auch noch länger dauern können. Die 68-Jährige irritiert das. Sie wünscht sich, dass Mediziner aller Fachrichtungen besser auf diese spezifische Krebsart geschult werden: "Als Patientin begibt man sich eben in die Hände, in die man fällt", sagt sie. Ihr HNO-Arzt hatte damals zwar einen Abstrich ihrer Zunge gemacht, aber keine Proben entnommen und analysiert - nur mit dieser Methode lassen sich Zungenkarzinome einwandfrei diagnostizieren. "Ich kann nur allen Menschen raten, auf Veränderungen an ihrem Körper zu achten", rät der Chirurg Denys Loeffelbein. "Besser, man fragt einen Arzt zu viel als zu wenig."

Josefine Bichler war vor ihrer Rente Lehrerin an einer Hauptschule. Sie ist eine Frau, die viel lacht und sich auch an kleinen Dingen erfreuen kann. In ihrem Wohnzimmer in Gauting dominieren Rot-, Orange- und Gelbtöne, das Bild an der Wand, Oliven und Zitronen, hat sie selbst gemalt. Sie plaudert gern. Bevor sie über den Krebs spricht, spielt sie auf ihrem Handy ein Lied an, dass ihr viel Kraft gibt: "Hurra, wir leben noch", von der italienischen Sängerin Milva. Schwungvoller Discofox, Josefine Bichler schunkelt mit.

Ärztliche Broschüren, Rechnungen, Fotoalbum - die Historie ihrer Krankheit liegt bereits auf ihrem Wohnzimmertisch. Bichler selbst hat sich an die SZ gewandt, um ihre Geschichte zu teilen, um andere zu sensibilisieren, passend zum Weltkrebstag an diesem Wochenende. "Ich will nicht in der eigenen Blase mein Leid beklagen", sagt sie. Und das, obwohl es ihr nicht leichtfällt, über die Krankheit zu sprechen. Sie hat das alles noch nicht verarbeitet. Zu viele Emotionen kommen bei ihr hoch, wenn sie daran denkt - die Hilflosigkeit, die Sorgen, die Angst, das eigene Glück bereits aufgebraucht zu haben.

1980 gab es einen Anschlag auf den Bahnhof von Bologna. 85 Menschen starben durch eine Bombe, die in einem Koffer versteckt war. Josefine Bichler hätte da sein sollen, zum Zeitpunkt der Explosion. Doch ihr Zug aus München fuhr über eine Stunde zu spät ab. "Wir haben dann noch das Blut an den Wänden gesehen und die Verletzten. Aber passiert ist uns nichts." In den Tagen vor ihrer Operation hat Josefine Bichler oft an dieses Erlebnis gedacht. Und sie hat Angst bekommen. "War das nicht schon genug Glück, habe ich gedacht", sagt sie und beißt sich auf die Lippen.

Doch die OP war erfolgreich. Etwa ein Fünftel ihrer Zunge haben die Chirurgen entfernt und mit Gewebe aus ihrem Oberschenkel ersetzt. Mehrere Stunden hat das gedauert. Danach durfte Josefine Bichler ihren Kopf erst einmal nicht bewegen, ihre Zunge war monatelang geschwollen. Die Pensionärin konnte lange nur Püriertes essen und musste eine logopädische Therapie machen, weil das Sprechen nicht mehr so klappte wie vorher. Inzwischen hat sie nur noch mit dem "R" und dem "S" leichte Probleme, die vermutlich bleiben werden, genau wie ein andauerndes Kribbeln auf der Zunge. Doch sie ist tumorfrei.

"Die Erkrankung ist mein Beifahrer", sagt Bichler

Die Krankheit und die Genesung hat Josefine Bichler in einem großen Fotoalbum mit grünem Einband festgehalten. Das hat ihr geholfen, das vergangene Jahr zu verarbeiten. Auf den ersten Seiten kleben Fotos aus der Zeit im Krankenhaus, ärztliche Broschüren und Genesungskarten von Freunden und Verwandten. Dazwischen hat Josefine Bichler alles aufgeschrieben, in ihrer ordentlichen Handschrift - wie es ihr ging, woran sie gedacht hat, was ihr geholfen hat, wie in einem Tagebuch. Blättert man weiter, werden die Bilder bunter. Familienfeste, Urlaubsfotos, Treffen mit Freunden.

Der Tumor ist weg, aber für Josefine Bichler ist der Krebs weiter präsent, schließlich spürt sie jeden Tag das Transplantat in ihrem Mund. Sie zeigt auf eine Collage im Album. Hier hat sie ihr Gesicht auf das Bild eines Motorradfahrers mit Beiwagen geklebt. "Die Erkrankung ist mein Beifahrer", sagt sie. "Aber ich bestimme den Weg." Dann erzählt sie, wie sie sich nach der Diagnose zunächst lange schämte. Sie hatte Angst, Freunden und Bekannten davon zu erzählen - Mundhöhlenkrebs tritt besonders häufig bei Kettenrauchern und Alkoholikern auf. Es ist eine Krankheit, die der Großteil der Patienten selbst verschuldet. Auch übermäßig viel scharfes Essen kann ein Auslöser sein, ebenso wie Humane Papillomviren (HPV).

Josefine Bichler hat in ihrer Jugend geraucht, sie trinkt auch mal ein Glas Wein oder Bier, aber so richtig passt sie nicht ins Krankheitsbild. Trotzdem hatte sie Angst vor Vorverurteilung. Es dauerte, bis sie die Scham überwunden hatte. Familie und Freunde haben ihr dabei geholfen. Jetzt will die 68-Jährige anderen Menschen die Scheu vor der Krankheit nehmen - und helfen, dass Tumore wie ihrer schneller diagnostiziert werden. "Wenn nur einer von meiner Geschichte hört und etwas abklären lässt", sagt sie, "dann ist schon viel gewonnen."

Im Sommer war sie mit ihrem Mann in Osttirol, wandern in den Bergen. Josefine Bichler mag Sprachbilder und Metaphern, je bildlicher, desto besser. Deshalb wollte sie auch den symbolischen Wanderurlaub, weil ihr Mann ihr im Frühjahr gesagt hatte: "Über den Berg bist du rüber, jetzt geht es nur noch talabwärts." In dem Album mit dem grünen Einband kleben Bilder von Gebirgspässen und Bergwiesen. Blauer Himmel, nur ein paar Wolken - und dazwischen Josefine Bichler mit Wanderstöcken und Trekkinghose. Sie lacht.

Am Sonntag, 4. Februar, war Weltkrebstag. Betroffene können sich an das Bürgertelefon Krebs des Bayerischen Zentrums für Krebsforschung wenden: 0800 85 100 80.

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