SZ-Serie: Bühne? Frei!:Und wieder nichts passiert

SZ-Serie: Bühne? Frei!: Der 1987 geborene Dichter Tristan Marquardt organisiert die Reihe "meine drei lyrischen ichs". 2019 bekam er den Bayerischen Kunstförderpreis für "scrollen in tiefsee".

Der 1987 geborene Dichter Tristan Marquardt organisiert die Reihe "meine drei lyrischen ichs". 2019 bekam er den Bayerischen Kunstförderpreis für "scrollen in tiefsee".

(Foto: Mario Steigerwald)

Kultur-Lockdown, Tag 82: der Dichter denkt über die Zukunft digitaler Lesungen nach

Gastbeitrag von Tristan Marquardt

Eine der großen Lehren im letzten Jahr für mich war, auf wie viel unterschiedliche Weisen Kultur-Veranstaltungen nicht stattfinden können. Variante eins: Man hat alles beantragt, genehmigt bekommen und geplant, und plötzlich sind Veranstaltungen generell verboten. Variante zwei: Man fängt gar nicht erst an zu planen, weil wegen der vielen Auflagen der Aufwand zu groß und der Ertrag zu ungewiss erscheint. Variante drei: Man nimmt es doch auf sich und scheitert an Verwaltungen im Kulturstaat Bayern, die sich mehr für Wirtschaft als für Kultur interessieren. Letzteres passierte unserer Lesereihe "meine drei lyrischen ichs" im Herbst. Wir erhielten von der Schlösser- und Gärtenverwaltung eine Absage für einen Veranstaltungsort, für den zuvor die Internationale Auto-Austellung eine Genehmigung erhalten hatte. Ein kleiner Skandal, der sogar den bayerischen Landtag erreichte. Danach war auf besonders aufwendige Weise wieder nichts passiert. Die einzige verlässliche Alternative sind bis heute digitale Veranstaltungen. Ich habe bei einigen gelesen, einige moderiert, viele angeschaut - und vielleicht ist mittlerweile genug Zeit vergangen, um eine vorläufige Bilanz zu ziehen.

Als im März alles schließen musste, waren die vielen, oft improvisierten Online-Lesungen in den sozialen Medien eine Wohltat, weil sie das Gefühl vermittelten, dass es irgendwie weitergeht. Schnell wurde aber klar, dass sie keine langfristige Lösung sind. Es mangelte an Technik und Know-how, und vielerorts fehlten die Mittel dafür. Das Versprechen, dass digital mehr Leute erreicht werden können, war ein scheinbares, da man einen großen Interessensvorschuss mitbringen muss, um sich konzentriert vor den Bildschirm zu setzen. Und auch dann waren die Online-Formate oft nur ein schlechterer Ersatz, weil man alleine zuhause saß und sich kaum austauschen konnte. Einzig die Tatsache, internationale Gäste einladen zu können, ohne sie einfliegen zu müssen, erwies sich als echter Vorteil, der hoffentlich nachhaltige Wirkung hat.

Mittlerweile denke ich, dass wir vor allem zwei Ziele verfolgen sollten, damit digitale Veranstaltungen eine gleichwertige Alternative zu analogen Literaturformaten sind. Zum einen benötigen wir bessere technische Ausrüstung, um Formate produzieren zu können, die man sich auch später noch gern anschaut. Dafür braucht es zusätzliche Förderung. Zum anderen ist deutlicher denn je geworden, dass Kultur-Veranstaltungen nicht nur künstlerische, sondern auch soziale Praxis sind. Sie leben vom Austausch und der Begegnung, sorgen dafür, dass man mit der Kunst nicht allein und die Kunst ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens ist. Das ist auch im digitalen Raum möglich. Aber Online-Formate müssen mehr bieten, als analoge Bühnen digital abzubilden. Sie sollten sozialer denken, Begegnungsräume nach den Veranstaltungen und mehr Möglichkeiten zur Interaktion schaffen. Erst dann sind sie mehr als eine Alternative dazu, dass gar nichts passiert.

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