SZ-Serie: Bühne? Frei!:Realität in tausend Splittern

Nora Schlocker

Nora Schlocker, 1983 in Österreich geboren, studierte Regie an der Ernst-Busch-Schule in Berlin. Seit der Spielzeit 2019/2020 ist sie Hausregisseurin am Residenztheater.

(Foto: Lucian Hunziker)

Kultur-Lockdown, Tag 18: Die Theaterregisseurin schreibt an ihr Publikum und probt ein Stück zur Lage

Gastbeitrag von Nora Schlocker

Ich bin so froh, dass wir proben dürfen. In dieser sich an Ereignissen überschlagenden Welt ist es für mich extrem tröstlich, jeden Tag ins Theater zu gehen. Wir stecken inmitten eines Projekts, das wirklich Sinn macht. Roland Schimmelpfennig hat für uns ein Auftragswerk geschrieben, "Der Kreis um die Sonne". Dabei gelingt es ihm, ein Stück zur Stunde vorzulegen, ein Stück über Corona, ohne diesen Begriff auch nur ein einziges Mal zu nennen. Es ist ein Text über ein Vorher und ein Nachher, über eine Gesellschaft, die vielleicht nie wieder so sein wird wie zuvor. Und wie es Schimmelpfennigs ganz eigene Art ist, spielt er auf wunderbare Weise mit Assoziationen, verschiedenen Zeitebenen.

Das Stück besteht aus Gesprächssplittern einer Party, ein Destillat eines rauschenden Fests unmittelbar vor einem Lockdown. Und genauso wie ein Tablett auf dieser Party zu Boden fällt, so scheint auch die Zeit im Stück, aber auch in meinem jetzigen Empfinden der Realität, in tausend Splitter zerbrochen zu sein. In diesem Vakuum werden gesellschaftliche Hierarchien, gescheiterte Beziehungen, Sehnsüchte und Utopien unter die Lupe genommen. Dabei balanciert der Text geschickt zwischen Smalltalk und Verzweiflung, einer zarten, sich entflammenden Liebesgeschichte und hitzigen Diskussionen. Da die Zeit außer Kraft ist, muss der Zuschauer wie auch ich mit den Schauspielern auf der Probe die Fäden aufnehmen, ihnen folgen, das Puzzle zusammensetzen, bis sich die unterschiedlichen Geschichten offenbaren.

Gleichzeitig stehen wir jeden Tag vor vielen Fragen und Problemen. Der Ort der Handlung ist von unserer derzeitigen Wirklichkeit sehr weit entfernt. Allein schon das ist eine spannende Herausforderung und das bei Einhaltung der derzeitigen Hygienemaßnahmen. Wie kann Spiel auf der Bühne im Moment lebendig werden? Wie eine Liebesgeschichte erzählt werden, wenn immerzu der Mindestabstand eines Babyelefanten im Raum steht. Und überhaupt: Welche Form des Theatermachens ist im Moment angemessen? Muss Theater nicht jetzt gerade Denkraum, Spiegel, Realität, Diskurs sein? Aussprechen und oder eben auch gerade nur Andeuten, Bilder finden für Emotionen, die eben nicht aussprechbar sind, so wie es vielleicht nur das Theater kann?

Im Schnitt einmal in der Woche hat jemand Erkältungssymptome. Dann unterbrechen wir die Proben, es gibt einen Corona-Test. Wir warten, haben Angst. Trotz der wirklich eisern eingehaltenen Abstände, immer im Bewusstsein, wie kostbar die Proben für uns sind. Unsere Art der Gegenwartsbewältigung. Und bisher hatten wir Glück - jedes Mal war's nur eine "normale" Erkältung, und wir kommen wieder zusammen und arbeiten weiter daran, möglichst bald mit unseren Zuschauern, ohne die das Theater einfach keinen Sinn macht, in Kontakt treten zu können. Und auch wenn mir das Handy schon morgens im Bett per SZ -Eilmeldung jede Menge erschreckende Nachrichten serviert, gehe ich voller Ambitionen wieder ins Theater. Und mache weiter, im festen Glauben daran, dass sie irgendwann kommen wird, die Premiere.

Alle Folgen der Serie auf sz.de/kultur-lockdown

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