Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Das Wichtige hören

Alexander Kluge ist Autor und Philosoph, Filmemacher und Künstler. Für das Nationaltheater hat er die Ausstellung "Sphinx Opera" konzipiert. Hier schreibt er über die gesellschaftliche Bedeutung der Oper.

Protokoll: Rita Argauer

Ich bin als Sohn eines Arztes in einer deutschen Provinzstadt aufgewachsen. Als ich vier Jahre alt bin, sitzt mein Vater, der auch Theaterarzt ist, in Reihe 7 einer Oper. Er ist auch Geburtshelfer. Eine schwere Geburt ist gemeldet. Ich werde losgeschickt, ihn aus der Oper zu holen. Von dem dunklen Raum voller Töne, in dem er sitzt, verstehe ich nichts. Nur eines: das, was ich da höre, ist wichtig. Der Moment setzt den Grundstein meiner Beziehung zur Oper. Sie ist ein Rätsel. Meine aktuelle Ausstellung im Nationaltheater heißt deshalb: "Sphinx Opera".

Wenn ich an meine Kinderzeit denke, an meine Stadt, dann geht das übers Ohr. Nicht übers Auge. Ich höre den Dialekt. Und ich höre eine Musik. Die Opern und die Opernhäuser sind sehr alt. Deren Gebäude liegen im Zentrum. In München haben sie die Theatinerkirche und die Maximilianstraße, und dazwischen die Oper. Sie können ganz gewiss sagen: Daraus wird nie ein Parkhochhaus. Das gehört in der Welt der Algorithmen zum Gegenalgorithmus.

Wenn in der Antike vom brennenden Troja berichtet wird, dann macht das kein Nachrichtensprecher, sondern ein Sänger wie Homer. Stellen Sie sich vor, der Sprecher oder die Sprecherin in der Abendschau finge an zu singen. So etwas gibt es nicht. Und so bleibt etwas vom real vorhandenen Gefühl in der Öffentlichkeit doch ohne Ausdruck. Musik aber kann Tatsachen und Emotion direkt verbinden. Sie ist älter als die Sprache. Vor 40 000 Jahren kommen die Menschen, die vor einer Sintflut am Schwarzen Meer geflohen sind, an der Donau an. Sie lernen dort zu tanzen und zu singen. Sie fangen mit der Wandmalerei an, sie finden ihren persönlichen Ausdruck. Das ist die Zeit, in der auch die Musik entsteht. Die Grammatik setzt sich später darauf. Der Rhythmus aber, der Subtext und die Melodie bleiben das Wichtige.

1944 schrillt in München die Alarmsirene und das Opernhaus brennt ab. Das war jüngst in Aleppo dasselbe wie damals zu Ende des Kriegs in Europa. Das müssen wir ernst nehmen.

Die Oper ist ein Tempel der Ernsthaftigkeit. In der Stadt hat das Opernhaus dieselbe Architektur wie der Landtag oder der Justizpalast. Doch im Parlament oder einer Vorstandssitzung, da wird nicht gesungen. Die Opernhäuser sind dafür da, dass es einen Ort für gemeinsame öffentliche Trauer gibt, dass man die Macht der Gefühle respektiert. Das heißt auch: Ein Teil dessen, was in unseren Körpern und Herzen sitzt, kann sich im normalen Leben nicht äußern. Um das auszugleichen, dafür ist die Oper da.

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Quelle:
SZ vom 23.06.2021
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