Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Bühne? Frei!:Großstadtspinne sucht Liebe

Kultur-Lockdown, Tag 68: Der österreichische Allrounder sinniert über menschliche Nähe

Gastbeitrag von Austrofred

Letzte Woche habe ich beim Beinevertreten - weil nur Lockdown ist ja auch nicht schön, man muss auch mal raus! - im Dreimühlenviertel ein Din-A4-Blatt mit folgendem Text an einem Parkscheinautomaten heften gesehen: "DU, MANN MIT KOPFHÖRER, hast mich (blond) gestern (Sonntag) ca. 19.30 Uhr an dieser Stelle angelächelt, als ich am Rad an dir vorbeifuhr. Ich hab's zu spät gecheckt. Ruf mich an!" Darunter zehn Streifen mit der Telefonnummer der Dame zum Abreißen. Acht dieser Streifen waren bereits weg. Dieser Zettel hat mich jetzt ein paar Tage beschäftigt.

Die erste Frage ist: Wer hat die Telefonnummern-Streiferl abgerissen? Wenn wir von dem unwahrscheinlichen Fall ausgehen, dass tatsächlich der Gesuchte einen der Streifen mitgenommen hat, bleiben immer noch sieben Männer, die doch kaum alle am Sonntag um dieselbe Zeit an derselben Stelle gewesen sein können! Mit Kopfhörern am Kopf! Es kann sich also im Endeffekt nur um Trittbrettfahrer handeln. Nur: Was haben diese Trittbrettfahrer vor? Kaufen die sich jetzt alle überdimensionierte HiFi-Hörer, um bei der Gegenüberstellung ihr Gesicht damit verdecken zu können, das ja zwangsweise ganz anders ausschauen muss als das gesuchte? Oder haben sie sich überlegt, dass eine Frau, die schon einmal so leicht zu beeindrucken war - nämlich einfach von einem vorübergehenden Haberer -, das schon nicht so genau nehmen wird? Und die zweite, noch interessantere Frage: Warum hat die Dame überhaupt zehn Streiferl gemacht?

Ich glaube, es gibt auf diese Fragen keine logische Erklärung. Es ist ganz einfach so, dass sich ein jeder Mensch auf seine individuelle und teilweise gestörte Art nach Zuneigung, Wärme und Sexualität sehnt, und damit er dieses Ziel erreicht, nimmt er die absonderlichsten Dinge auf sich, die teilweise mit Logik nicht viel zu tun haben.

Ein Beispiel aus dem Tierreich: Es gibt Spinnenarten, wo die Männchen mitten im Begattungsvorgang sterben, wegen zu hohem Blutdruck oder Diabetes oder so. Nach ihrem Tod hängen sie dann noch eine Zeit lang als Leiche aus dem weiblichen Genital heraus, was laut Natur für sie den Vorteil hat, dass ein anderes Männchen praktisch fast nicht mehr hinein kann, beziehungsweise nur, wenn es sich mit seinem Geschlechtsorgan an der Leiche vorbeizwickt, was kein übermäßiger Genuss sein dürfte, meiner Erfahrung nach. Was das dem eh schon toten Männchen bringen soll, ist zwar ein bisschen die Frage, aber so ist eben der Mensch (beziehungsweise in dem Fall halt die Spinne): Er gönnt dem anderen nichts - auch wenn es für ihn keinerlei Nachteil hat, wenn der es hat - und das über den Tod hinaus. Auch hier setzt die Logik vollkommen aus.

Na ja, man kann es drehen und wenden wie man will: Der Mensch ist einfach ein armseliges und bedürftiges Wesen. Wir sollten ihm gegenüber gnädig sein, wann immer wir mit einem Exemplar dieser Gattung zu tun haben.

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Quelle:
SZ vom 08.01.2021
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