Süddeutsche Zeitung

Gärtnerplatzviertel:Mit dem Netzer verliert München einen Ort der Anarchie

Wo die Gäste den DJ durchs Lokal tragen: Die Bar in der Baaderstraße ist ein ganz spezieller Ort. Doch an diesem Wochenende ist Schluss - erstmal.

Von Sebastian Krass

Wer es noch einmal erleben will, der sollte zeitig da sein. Am vergangenen Wochenende stand gegen ein Uhr nachts eine Traube von Menschen an der Ecke Baader-/Corneliusstraße, sie wollten ins Netzer. Doch sie mussten sich gedulden. Drinnen war es zu voll. Es scheint sich rumgesprochen zu haben, dass es an diesem Wochenende so weit ist: Nach zwölf Jahren hat das Netzer zum letzten Mal geöffnet.

Wirt Frank Bergmeyer hat sich schon Anfang des Jahres dazu entschlossen, zuzusperren. Für das Nachtleben in München ist das mehr als einfach nur eine Bar, die schließt. Das Gärtnerplatzviertel - und letztlich ganz München - verliert einen Ort der nächtlichen Anarchie, einen Ort, der mit der Ausgeh-Party-Routine bricht.

Bar ist sowieso nicht das richtige Wort für das Netzer & Overath, wie es offiziell heißt, den zweiten Teil hat nur nie jemand benutzt. Schon die Lautstärke der Musik macht das Netzer eigentlich zum Club, nur ohne Eintritt und ohne besondere Einlasspolitik. Jedenfalls so lang man nicht in Tracht kommt und so lang es drinnen nicht zu voll ist.

Auch die Einrichtung ist für eine Bar eher minimalistisch. An den Wänden hängen Dutzende Poster von Johnny Cash mit ausgestrecktem Mittelfinger (inzwischen auch ein paar Farewell-Poster mit Cash von hinten) und Fotos aus der Zeit, als Günter Netzer erstmals demonstrierte, dass Fußballer auch cool sein können. Ansonsten gibt es eigentlich nur eine Getränkeausgabe, ein DJ-Pult, eine Tanzfläche - und hinten in der Ecke einen Tischkicker.

Im Netzer konnte immer etwas passieren, mit dem nicht zu rechnen war und das in der Erinnerung hängen bleibt.

Wo die Gäste den DJ durchs Lokal tragen

Einmal zum Beispiel stieg der DJ auf die Plexiglasabdeckung über seinen CD-Playern, er duckte sich unter der niedrigen Decke und ließ sich wie ein Rockstar nach vorn fallen. Die Gäste fingen ihn auf und trugen ihn durchs Lokal. Ein andernmal stand plötzlich ein männlicher Gast auf einem Bierkasten und zog sich aus, komplett. Warum? Das wusste niemand, ist aber auch die falsche Frage. Besser ist: Warum eigentlich nicht? Und wo sonst?

Das X-Cess war so ein Laden, in dem das auch passieren hätte können. Aber es ist nach dem Umzug aus der Jahnstraße an die Sonnenstraße nur noch ein trauriger Abklatsch. Die Schwabinger 7: Plattgewalzt und jetzt auch in einem neuen Domizil, nun ja. Auch die Fraunhofer Schoppenstube war auf ihre ganz eigene Art so ein Ort, an dem immer was passieren konnte. Und es ist wohl besser, dass sie nicht woanders wieder aufgemacht hat.

Der Wirt will auf jeden Fall ein Nachfolgelokal aufmachen

Es ist längst nicht immer etwas Besonderes passiert im Netzer. Aber selbst ein durchschnittlicher Abend hier bietet etwas, das es in München sonst nicht gibt. Das Netzer ist ziemlich Rock 'n' Roll, nicht auf die stylish-anspruchsvolle Art, wie es das Atomic Café vorgemacht hat, sondern eher schmutzig-direkt. Es ist eng, heiß, laut, und je länger die Nacht dauert, desto schlechter riecht es. Die Musik ist tanzbarer, konventioneller Indierock mit gelegentlichen Ausflügen in benachbarte Gefilde, keine Experimente, Hauptsache voll auf die Zwölf.

Aber nach einem Abend in zwei, drei München-Bars mit guten Drinks, guter Musik und gut aussehenden Menschen, schleicht sich manchmal das Gefühl ein: Das war doch jetzt nur die Fortsetzung des Lebens am Tage in dieser Stadt, das kann doch nicht immer so weitergehen. Dann ist das Netzer die logische nächste Station - und meistens auch die Endhaltestelle.

Damit ist es nun vorbei - erstmal. Wirt Bergmeyer hat im Juni gesagt, er wolle wieder ein ähnliches Lokal eröffnen. Und wie ist der aktuelle Stand? "Es bahnt sich ein Nachfolgelokal an", schreibt Bergmeyer, "ist aber noch nicht in trockenen Tüchern". Aber es "werde im Viertel sein, wenn's klappt". Es wird spannend zu sehen, ob dem Netzer gelingt, was so viele andere nicht schaffen: den Ort wechseln und den alten Geist am Leben halten.

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