Gärtnerplatztheater:Aneinander vorbeilieben

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Eigentliche Hauptrolle: Die erst junge und schüchterne, später unglücklich gereifte Tatjana (Camille Schnoor). (Foto: Christian Pogo Zach)

Bei der ersten Premiere der Corona-Saison im Gärtnerplatztheater macht sich Regisseur Ben Baur die Abstandsregeln dramaturgisch zu Nutze. Am meisten aber überzeugt bei "Eugen Onegin" das Orchester

Von Klaus Kalchschmid

Man beginnt sie zu zählen, die Momente, in denen körperliche Berührung in dieser Premiere von "Eugen Onegin" am Gärtnerplatztheater haarscharf vermieden wird: Wenn die Lippen von Olga und Lenski sich scheu annähern, aber nie finden; wenn die Hände beim steifen Tanz-Ritual der Männer und Frauen immer zehn Zentimeter Abstand wahren oder wenn Onegin schwarze Handschuhe trägt, als er buchstäblich Tatjanas weit ausgestreckte Hand ausschlägt. Einzig einen flüchtigen Handkuss gibt es, Onegin und Lenski berühren kurz ihre Hände beim Duett vor dem Duell, und Tatjana legt Fürst Gremin ihre Hand auf die seinige. Dass auch beim Schlussapplaus peinlich und umständlich vermieden wird, sich die Hände zu reichen, ist fast tragikomisch, aber wohl dem Hygiene-Konzept geschuldet.

Regisseur Ben Baur trat also die Flucht nach vorn an, nahm die gesuchte, aber selten gefundene körperliche Nähe als Deutung der Charaktere, die ja erschreckend aneinander vorbeilieben. Er arrangierte den Chor weitgehend statisch, belebte ihn aber durch stumme Tänzer. Von ihm stammt auch die durch Michael Heidinger raffiniert unterschiedlich beleuchtete Einheitsbühne: Zahllose hohe, braune Fensterläden bilden eine geschwungene Wand, von der man nie weiß, ob sie Innen- oder Außenräume begrenzt. Dank eines immer wieder zur Seite gezogenen goldbraunen Vorhangs kann mit wenigen Versatzstücken wie Bett, Stühlen oder kleinen Tischen intime Atmosphäre an der Rampe erzeugt werden. Mit stilisiert historischen Kostümen von Uta Meenen ergibt das eine ansprechende Optik.

Schade, dass Ben Baur die Präzision und Prägnanz seiner Personenführung durch manchmal etwas arg bedeutungsschwangere Momente, etwa stumme, schwarz gewandete, oft weibliche Gestalten aufweichte und am Ende auch die Toten wieder auferstehen ließ. Dem verzweifelten Onegin erscheinen der blutüberströmte Lenski oder die alte Amme Filipjewna wie eine Vision. Einzig der Moment, wenn gleich ein Dutzend Onegins Tatjana ihren flammenden Liebesbrief abweisend entgegenstrecken und sie bedrängen, wirkt bewegend surreal.

"Eugen Onegin" steht und fällt nicht mit der Besetzung der Titelpartie, die von Tschaikowsky eine einzige kurze Arie bekommt, sondern mit Tatjana. Camille Schnoor singt und spielt diese ganz wunderbar, lässt ihren Sopran als Mädchen warm erblühen, nur für die Leidenschaft am Ende fehlten ihr in der Premiere noch etwas die Reserven. Eine Glanzleistung bot Lucian Krasznec als Lenski. Wie die Eifersucht von diesem scheu Verliebten mit aller Macht Besitz ergreift, ihn jähzornig und blind macht, aber auch mit welcher Verzweiflung er sich vom Leben verabschiedet und danach unter Alkoholeinfluss in einen Weinkrampf verfällt, das beglaubigt Krasznec mit facettenreichem Singen, das die Farben seines schönen lyrischen Tenors beeindruckend zur Geltung bringt. Der Onegin von Mathias Hausmann ist aus anderem Holz geschnitzt: Diesen seelischen Grobmotoriker übermannen die Gefühle spät, so wenn er mit markerschütterndem Schrei realisiert, dass er seinen besten Freund getötet hat. Das macht Hausmann mit kernigem Bariton glaubhaft.

In Fürst Gremin hat Onegin hier einen ernst zu nehmenden Konkurrenten, denn der erst 33-jährige Sava Vemić verbindet reife Bassgewalt mit jugendlichem Glanz in der Höhe. Wie schade, dass er nur in einer einzigen Arie brillieren kann. In den kleineren Partien ragen Anna-Katharina Tonauer mit übermütigem Mezzo als fast schon gefährlich lebensfrohe Olga und Anna Agathonos als alte, hier wahrlich gebrechliche Amme heraus. Kaum Probleme macht ihnen allen die Originalsprache Russisch, in der, anders als noch bei der letzten Produktion vor 25 Jahren, dieser "Onegin" dargeboten wird.

Glanzvoll ist die Leistung des Orchesters unter Leitung von Anthony Bramall in der eigens für diese Produktion entstandenen Fassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow. Sie umfasst gerade mal 24 Musikerinnen und Musiker: Elf prägnant und schön musizierende Streicher, je zwei Flöten, Oboen, Hörner, Trompeten, dazu Posaune, Fagott, Harfe und Pauke sitzen mit gebotenem Abstand im Graben. Auf sie sind die Stimmen der Partitur so geschickt verteilt, dass man überrascht ist, wie gut das klanglich funktioniert und nicht selten glaubt, mit Röntgen-Strahlen zu hören. Dabei ist sogar manches Detail klarer als im Original zu erleben.

Eugen Onegin , nächste Vorstellung: Samstag, 10. Oktober, 19 Uhr, Gärtnerplatztheater, Gärtnerplatz 3

© SZ vom 10.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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