Süddeutsche Zeitung

Fußgängerzone in München:Gedrängt wie Schafe

Flanieren zwischen Stachus und Marienplatz - das war für Fußgänger in den Sechzigerjahren alles andere als entspannend. Dort fuhren damals täglich 75 000 Autos und 1400 Straßenbahnen. Heftige Debatten mussten geführt werden, bis mit der Fußgängerzone endlich Ruhe einkehrte.

Von Kassian Stroh

Der erste Versuch war, glaubt man den zeitgenössischen Berichten, eher ein Reinfall. Am zweiten Adventssamstag 1961 wird die Münchner Innenstadt erstmals für Autos gesperrt. Und zwar radikal: zwischen Stachus und Isartor, zwischen Odeonsplatz und Sendlinger Tor, von 10 bis 18 Uhr. Doch es bewährt sich nicht: "Um das Chaos nicht noch zu vergrößern", hebt die Polizei den Sperrgürtel nach drei Stunden wieder auf, allein Kaufinger- und Neuhauser Straße bleiben bis zum Abend autofrei.

Das Fazit: Die Autofahrer klagen, die Geschäftsleute auch, denen die "Autokundschaft" fehlt, selbst die Fußgänger mosern, weil es zu viele Ausnahmen ("Durchlassscheine") gegeben habe. So endet der erste Versuch, Münchens Zentrum zur Fußgängerzone zu machen.

Das Problem

Münchens Innenstadt ist in jener Zeit voll, insbesondere der Bereich vom Stachus bis zum Marienplatz: Bis zu 75 000 Autos fahren dort angeblich und 1400 Straßenbahnen - jeden Tag. Die Fußgänger drängeln sich auf schmalen Bürgersteigen. Besonders schlimm ist ihre Lage an den Adventssamstagen: "Wie die Schafe" würden sie von Kraftfahrern an die Wand gedrückt, klagt Stadtrat Ludwig Schmid im Dezember 1961. Dass die von ihm angeregte erste Sperrung nicht ganz funktioniert, liegt vielleicht auch daran, dass sie eher kurzfristig erfolgt: Nur zwei Tage zuvor hat der Stadtrat den Versuch beschlossen. So schnell kann Politik sein.

Die Autos zeitweilig an Samstagvormittagen auszusperren, wird aber vom Jahr 1962 an zur Regel. Man sei zu dieser Maßnahme gezwungen, heißt es bei der Polizei, da andernfalls "die zahlreichen Fußgänger, die dort ihre Einkäufe machen wollen, ernstlich gefährdet" wären.

Der General-Plan

Zu Beginn der 1960er-Jahre ist freilich immer wieder im Gespräch, auch dauerhaft eine Fußgängerzone zu errichten. 1960 gibt der Stadtrat für München einen Stadtentwicklungsplan in Auftrag; maßgeblich formuliert wird er von Stadtplaner Herbert Jensen, der zuvor in Kiel bereits einen autofreien Bereich geschaffen hat. 1963 verabschiedet der Stadtrat das Werk, es geht um die Entwicklung des gesamten Großraums, und darin findet sich auch die Idee, im Zentrum "zusammenhängende Fußgängerbereiche" auszuweisen, freilich nur, wenn es genug Entlastungsstraßen, Parkhäuser und öffentliche Nahverkehrsmittel gibt.

Solche Zonen sollten sich "beruhigend auf das innerstädtische Leben auswirken und zum Verweilen einladen", heißt es in dem Plan. "Überall in der Welt ist das gleiche Bestreben erkennbar, das Stadtinnere als Treffpunkt, als Stätte der Begegnung und der Organisation des Zusammenlebens dem Menschen wieder zurückzugewinnen. Gerade München als Fremdenverkehrsstadt ersten Ranges würde dadurch sehr gewinnen."

Und was war die Hauptmotivation für eine Fußgängerzone? "Die Lebensqualität zu steigern", sagt Hans-Jochen Vogel, der 1960 Oberbürgermeister geworden ist. Nicht etwa die Überlegung, im Zentrum mehr Geschäft machen zu können. Im Gegenteil: Wie so oft bei diesem Thema sind auch die Münchner Geschäftsleute zumeist skeptisch bis ablehnend; sie fürchten, Kunden zu verlieren. "Die Debatten waren lebhaft", erinnert sich Vogel, "aber erfreulicherweise gewannen die Befürworter bald die Oberhand."

Historischer Kern der Münchner Fußgängerzone ist nicht die Meile zwischen Stachus und Marienplatz. Die beiden Keimzellen finden sich anderswo: Im Oktober 1962 wird der Platz vor dem Dom abgesperrt, bis dahin eine Straße nebst großem Parkplatz. Das Areal wird umgestaltet und ist von Dezember 1962 an autofrei. Im Juni 1965 entsteht dann die erste echte Fußgängerzone, wenngleich sie nur 100 Meter lang ist: am Platzl vor dem Hofbräuhaus.

Der konkrete Plan

Im Sommer 1965 legt Jensen einen ersten Plan für eine Fußgängerzone vor, deren Ausdehnung ziemlich jener entspricht, wie München sie bis heute hat. Mit dabei sind damals allerdings noch fast die Hälfte der Sendlinger Straße sowie die Schützenstraße zwischen Hauptbahnhof und Stachus, was später fallen gelassen wird. Viele Geschäftsleute sind von dem Plan höchst angetan: "Das wäre herrlich", zitiert die Abendzeitung den Besitzer eines Lederwarengeschäfts in der Weinstraße. "Was uns da erspart bliebe: der ständige Lärm, die entsetzliche Luft, es wäre geradezu eine Erlösung." Der Stadtrat beschließt im Februar 1966, Jensens Plan umzusetzen. Bis heute erinnert daran eine Tafel am Karlstor.

Die vielen Ideen

In der Folge wird lebhaft über die künftige Gestaltung der Fußgängerzone diskutiert, spätestens als 1968 die Ergebnisse des Architektenwettbewerbs ausgestellt werden. Eine der Kernfragen: Wo dürfen Autos in Nord-Süd-Richtung queren und damit die Fußgängerzone unterbrechen? Zwei solche Stellen bleiben bestehen: an der Dienerstraße direkt am Rathaus und am Jagdmuseum. Dort steht später noch einige Zeit eine Ampel. Am meisten treibt die Münchner aber die Frage um, ob es künftig noch Leben geben wird in der Innenstadt oder ob sie zur "Provinzidylle" verkommt.

Carl Amery etwa, Schriftsteller und seinerzeit Direktor der Stadtbibliothek, befürchtet Schlimmes: Nach Ladenschluss werde es in der Fußgängerzone (er spricht vom "Universalgehsteig") dürftig aussehen, denn es gebe nur "einige Bräus und einige Kinos". Die öffentliche Hand müsse sich um eine Belebung kümmern. Amerys Idee: ein "vergnügliches Zentrum, das die Vorteile eines Zeitungscafés, eines informellen Treffpunkts und, jawohl, einer besseren Spielhölle vereint" (eher mit Schach und Billard freilich, nicht mit Roulette).

"Da der durchschnittliche Unternehmer sich heute die Gemütlichkeit und Urbanität nicht mehr leisten kann, die früher in den Caféhäusern Europas blühte, muss die öffentliche Hand nicht nur etwas Freiheit, sondern auch etwas Gemütlichkeit und Urbanität planen." Andernfalls drohe der Innenstadt eine "Deformation", "die wir aus anderen City-Bereichen sattsam kennen".

1970 wird in München zudem durchaus lebhaft debattiert, ob nicht eine alte Tram als "Bimmelbahn" durch die Fußgängerzone fahren solle. Was bis heute der Stadt für den Englischen Garten vorschwebt, ist auch damals im Gespräch: Um eine störende Oberleitung zu vermeiden, müsste die Bahn von einer Batterie betrieben werden.

Derweil sind die Autos und Trambahnen aus dem Zentrum bereits weg: 1968 beginnt man, es für die künftige S-Bahn umzugraben. Und im Dezember 1969 beschließt der Stadtrat endgültig die Details der Fußgängerzone - zusammen mit dem Wiederaufbau des Alten Rathausturms.

Die Verwirklichung

Überraschend kommt das Aus für die Autos dann nicht: Nach dem Ende der S-Bahn-Baustelle werden sie einfach nicht mehr in den Bereich zwischen Stachus und Marienplatz gelassen. Der wird umgestaltet, und schon im Weihnachtsgeschäft 1971 zeigt sich die belebende Wirkung: Nach dem ersten langen Adventssamstag titelt die Süddeutsche Zeitung: "Völkerwanderung zur Fußgängerzone". Die Geschäfte melden bald stark steigende Umsätze.

Am 30. Juni 1972 schreitet Hans-Jochen Vogel zu seiner letzten Amtshandlung als OB: Er eröffnet die Fußgängerzone offiziell und verabschiedet sich zugleich von den Bürgern. Der Marienplatz ist voll wie heute bei einer Meisterfeier des FC Bayern, die Mikrofonanlage allerdings offenbar weit dürftiger. Die Abendzeitung zitiert einen Rentner, der während Vogels Rede begeistert klatscht, wiewohl er kein Wort versteht: "Is immer guat, wenn der Herr Oberbürgermeister red."

Dadurch verpasst der Herr freilich Sätze wie diesen: München habe sich "gegen die Übermotorisierung und damit gegen die Auswüchse des ökonomischen Prinzips erfolgreich zur Wehr gesetzt", sagt Vogel, "es hat die richtige Rangordnung der Nutzungen wiederhergestellt und die Menschlichkeit und die Urbanität, die in Blechschlangen, Motorenlärm und Abgaswolken zu ersticken drohten, in das Herz der Stadt zurückgeholt". Für das Volk gibt es 21 Hektoliter Freibier und 10 000 Gratisbrezen. Vogel spricht heute von einem Abschluss seiner Amtszeit, "wie man ihn sich nur wünschen konnte".

In der Folge freilich wird über die Fußgängerzone weiter lebhaft debattiert: Zu wenig Mülleimer, Bäume und öffentliche Uhren, zu viele Demos und Politagitation, die aufgestellten Stühle zu billig und nicht sicher genug, die Schauvitrinen ein Ärger- und Hindernis, die Lampen zu modern. Die Bürgerschaft erregt sich immer wieder heftig.

In der SZ erscheint am 22. August 1972 ein Kommentar: "Etwas Ungewöhnliches ist in den letzten Jahren geschehen: Münchens Bürger haben begriffen und begreifen immer mehr, dass die Stadt ihnen gehört und nicht irgendwelchen Ämtern und Behörden. Dieses neue Bewusstsein ist nicht erst mit der Schaffung der Fußgängerzone aufgekommen, aber es wurde durch sie zweifellos gestärkt." Autor ist der Schriftsteller und Journalist Karl Ude. Sein Sohn Christian wird gut 20 Jahre später Oberbürgermeister.

Die Erweiterungen

Bis heute ist die Fußgängerzone mehrmals modifiziert und erweitert worden: Die Auto-Querungen sind verschwunden, die Theatiner-, die Augustiner- und Teile der Sendlinger Straße hinzugekommen. Die erste Erweiterung steht schnell an, im November 1972: der Viktualienmarkt.

Und Vogel, eine der maßgeblichen Kräfte dahinter, wie denkt er heute über die Fußgängerzone? Er freue sich noch immer jedes Mal, wenn er am Stachus oder am Marienplatz stehe, sagt er. "Ich bedauere nur, dass sich immer mehr Handelsketten breit machen. Der individuelle Münchner Charakter spielt bei diesen keine Rolle mehr."

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Quelle:
SZ vom 06.06.2014/amm
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