Süddeutsche Zeitung

Forschung: "47 Prozent der Tore, die im Profifußball fallen, passieren zufällig"

Nicht unwahrscheinlich also, dass auch die eigene Oma den reingemacht hätte. Martin Lames erforscht an der TU München, welche Rolle der Zufall im Fußball spielt.

Von Stefan Galler

Wie oft hätte Katsche Schwarzenbeck wohl seinen Schuss wiederholen müssen, um noch einmal derart perfekt zu treffen? Damals im Finale des Europapokals der Landesmeister 1974 gegen Atlético Madrid schaffte der Abwehrspieler des FC Bayern in letzter Sekunde der Verlängerung den 1:1-Ausgleich, tags darauf trafen sich die beiden Teams zum Wiederholungsspiel, Bayern siegte 4:0 und begründete eine Ära des Erfolgs, die bis heute andauert. Dabei war der Ausgangspunkt, jener Volltreffer von Schwarzenbeck aus gut 35 Metern das, was Professor Martin Lames wohl mit Recht ein "Zufallstor" nennen würde.

Der Wissenschaftler vom Lehrstuhl Trainingswissenschaft und Sportinformatik der Technischen Universität München (TUM) weiß, wovon er spricht, denn genau mit dieser Thematik setzte er sich zuletzt bei seinen Studien auseinander. Die verblüffende These des 59-Jährigen lautet: "47 Prozent der Tore, die im Profifußball fallen, passieren zufällig." Haben also in ihrer reinen Form erst einmal nichts zu tun mit Trainingslehre, Athletik, Schnelligkeit oder Taktik. Obgleich man dem Zufall natürlich auf die Sprünge helfen kann, aber das ist nicht der Inhalt der Studie.

Der aus Wittlich an der Mosel stammende Professor hat als Jugendlicher in der örtlichen Kreisauswahl selbst gekickt. Später dann betrieb er sogar Leistungssport: als Mittelstreckenläufer. Und nach seinem Sportstudium an der Universität Mainz, das er mit den Fächern Mathematik und Philosophie kombinierte, hätte er Sportlehrer werden wollen, fand jedoch keine Stelle. Später folgte er dem Ruf des Professors, bei dem er sein Examen abgelegt hatte und promovierte in Mainz zum Thema "Leistungsdiagnostik durch Computersimulationen in der Sportart Tennis". Damals habe er ein Verfahren ausgearbeitet, das später auch in zahlreichen anderen Sportarten angewendet worden sei, sagt Lames. In Kiel habilitierte er sich mit einer Arbeit zur Gesundheitsförderung beim Breitensport in Vereinen.

Seine erste Professur erhielt Lames 1996 an der Uni in Rostock, nach vier Monaten wurde er Direktor des dortigen Sportinstituts und hatte die anspruchsvolle Aufgabe, die sportwissenschaftlichen Erkenntnisse aus Ost und West nach der Wende unter einen Hut zu bringen. Über die Universität Augsburg kam er schließlich 2009 an die Münchner TU, wo er beispielsweise eine Spielbeobachtungssoftware entwickelte, die von den deutschen Beachvolleyball-Olympiasiegern 2012 (Reckermann/Brink) und 2016 (Ludwig/Walkenhorst) genutzt wurde.

Martin Lames

"Das Glück weiß ja nicht, ob ich in der Tabelle oben oder unten stehe."

Spielanalyse und -beobachtung zählen schon lange zu seinen bevorzugten Forschungsfeldern. Ein Thema, das er auch bei der aktuellen Studie zu den Zufallstoren wieder beackerte. "Bei einem 100-Meter-Läufer ist die Leistung das Ergebnis von Ausdauer- und Sprintfähigkeit und damit voraussehbar", sagt der Wissenschaftler. Bei Sportspielen, zu denen alle Mannschaftsballsportarten, aber auch Tennis, Tischtennis und Badminton zählen, sei dies völlig anders: "Durch den dynamischen Interaktionsprozess zwischen zwei Gegnern, die beide das gleiche Ziel verfolgen, schwankt das Kräfteverhältnis hin und her", erläutert Lames.

Ob Heim- oder Auswärtsspiel ist dem Zufall egal

Und weil etwa im Fußball im Schnitt weniger als drei Tore pro Spiel fielen, sei es so interessant, den Einfluss des Zufalls auf diese "besonderen Ereignisse" (Lames) zu untersuchen. "Schauen wir auf das Champions-League-Finale", sagt der Wissenschaftler und spielt auf die grotesk anmutenden Fehler des Liverpooler Torwarts Loris Karius an. "Dass ihnen zwei Tore geschenkt werden würden, damit hatte Real Madrid gewiss nicht gerechnet", sagt Lames. Klassische Zufallstore eben (die jedoch womöglich durch eine nunmehr diagnostizierte Gehirnerschütterung bei Karius verursacht gewesen sein könnten).

Diese Zufallstore ordnet der Professor in sechs Kategorien ein: Tore, die durch Fehler des Gegners entstehen (wie jene von Benzema und Bale für Real gegen Liverpool); solche, die unfreiwillig abgefälscht sind, wodurch sich der Torwart in die falsche Ecke orientiert; Abpraller von Pfosten oder Latte, die einem Stürmer vor die Füße springen, so dass dieser nur noch abstauben muss; eine starke Torwartberührung, die die Richtung des Balles um mehr als 45 Grad verändert (was aussagt, dass er den Ball auch hätte halten können); Abpraller von Pfosten oder Latte, die ins Tor gehen, und Schüsse aus großer Distanz, also außerhalb des Halbkreises am Rande des Strafraums, und das bei freier Sicht des Torwarts (siehe Schwarzenbeck 1974).

Die insgesamt 1932 Treffer, die in der Saison 2016/17 in Bundesliga und englischer Premier League gefallen sind, wurden auf diese Kriterien hin untersucht. Die eingangs erwähnten 47 Prozent fielen in mindestens eine der Kategorien; an der Spitze liegt der Abwehrfehler, der unmittelbar zu einem Treffer führt, 22,5 Prozent aller Tore entstehen auf diese Weise.

Ein paar seiner Forschungsergebnisse findet Lames beruhigend: "Die Zahl der Zufallstore hängt nicht ab von Heim- oder Auswärtsspiel und auch nicht, ob sich das Spiel in der Anfangs- oder Schlussphase befindet", sagt er. Und sie fallen auch nicht häufiger für Spitzenteams als für Abstiegskandidaten. Denn, so Lames: "Das Glück weiß ja nicht, ob ich in der Tabelle oben oder unten stehe."

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Quelle:
SZ vom 09.06.2018/bhi
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