Fußball-Moderatorin und Buch-Autorin:Schäme dich nicht

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Jessica Libbertz mit ihrem Hund Han Solo vor einem Foto, das sie beim ersten öffentlichen Auftritt mit ihrem Mann Roman zeigt. (Foto: Catherina Hess)

Gebete an einen indischen Affengott, Zucker-Abstinenz und offene Gespräche mit ihrem Ehemann: Jessica Libbertz hat ein Buch über quälende Empfindungen geschrieben. Früher hatte sie größte Selbstzweifel, heute steigt sie jeden Morgen auf einen Stuhl

Von Michael Zirnstein

Jetzt kann jeder kurz nachdenken, wofür er sich einmal in seinem Leben schlimm geschämt hat. Jessica Libbertz könnte da viele Episoden erzählen. Ganz besonders jene, als sie (da hieß sie noch Jessica Kastrop) am großen Tag des Revierderbys zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund die Trainer Jens Keller und Jürgen Klopp interviewte. Gesellig, wie sie ist, verwickelte sie die Kontrahenten in eine heitere Plauderei, in der Klopp zu ihr sagte: "Mein Vater kommt aus der Pfalz, da bist du doch auch her, oder?" Am Ende des Interviews verabschiedete Libbertz Klopp vor laufender Kamera: "Ach, und grüßen Sie mir Ihren Vater." Was sie nicht ahnte: Klopp Senior war schon tot.

Na und, mag da manch unsensibler Zeitgenosse einwenden, so ein Fauxpas passiert halt mal. Jessica Libbertz ist aber eine empfindsame Frau. Ein Leben lang hat sie sich selbst durchleuchtet, bis in die dunkelsten Ecken hinein. Nie genügte sie ihren Ansprüchen an sich selbst - das ist ihre Definition des Begriffes Scham: ein Dauergefühl der Unzulänglichkeit. Das Thema ihres Lebens ist ihr so wichtig, dass die Sportjournalistin ein Buch darüber geschrieben hat: "No Shame: Wie wir den Teufelskreis der destruktiven Scham verlassen" (Gräfe und Unzer). Diese Scham sucht sich ständig neue Fettnäpfchen, in denen sie badet, an denen sie sich nährt und vermehrt. So wie damals, als Jessica Libbertz juxend Klopps toten Vater heraufbeschwor.

Noch während der Sendung brach ein Höllensturm im Internet los, wo Fußballfachfrauen eh am Pranger stehen. "Wie in Trance durchstand ich die nächsten Interviews, kämpfte immer wieder mit den Tränen", erzählt sie. Das Schlimmste stand noch bevor: Dortmund verlor das Prestigeduell, und Libbertz erwartete einen miesepetrigen Klopp zum Interview. In den Katakomben der Veltins-Arena nahm sie ihren Mut zusammen und bat den Coach um Verzeihung. Wieder heulte sie fast los. Doch der Mann, der gerade eines der Spiele des Jahres verloren hatte, und dem sie "in dem Moment so bedeutsam sein konnte wie ein benutztes Wattestäbchen", nahm sie in den Arm: "Mach dir keine Gedanken. Mein Vater ist für mich immer lebendig."

Diese Szene sagt so viel. Über Klopp, den Libbertz im Dampfdrucktopf Profi-Fußball als "den besten Kommunikator" und einen "Menschenfreund" schätzt: "Der könnte auch Bundespräsident." Über das Thema Scham - denn der Fehler, den ihr die "asozialen Netzwerke" ankreideten, existierte für den Hauptbetroffenen gar nicht. Und es sagt am meisten über Jessica Libbertz - die nun in ihrer neuen, schicken Wohnung in Bogenhausen offen über ihre Scham redet, als sei sie ein Schnupfen.

Das war nicht immer so: "Als Lehrerkind" und mit dem falschen Dialekt ausgestattet, fühlte sie sich schon als Schulkind fehl am Platz. Scham ist im Grunde etwas Nützliches, beschreibt sie in ihrem Buch, sie sorgt dafür, dass Menschen sich an die Regeln ihrer Gruppe halten. Aber bei vielen, wie bei ihr, übernimmt sie im Hirn die Kontrolle. Jessica Libbertz fürchtete Familienfeste, mied - aus Angst zu versagen - den Tennisplatz und traute sich nicht zum Badesee, sie hungerte sich auf unter 40 Kilo herunter. Ausgerechnet sie geriet in einen Beruf, in dem sie ständig am Marterpfahl der Öffentlichkeit steht, in dem Fachblätter über die "heißeste Sportjournalistin" abstimmen und sie "pferdehaft" nennen.

Der Bezahlsender Premiere (heute arbeitet sie bei Sky) suchte eine Nachfolgerin für Monica Lierhaus als Bundesliga-Reporterin. Libbertz hatte Journalismus in München studiert, hatte als Sportreporterin unter anderem für die Bild gearbeitet und war gerade ihren Job beim Organisationskomitee der Fußball-WM los, weil ihr Chef wegen einer Beratervertragsaffäre weichen musste. "Ich war ein frühes Opfer des Sommermärchens." Irgendwie musste sie ihre Miete zahlen, also ging sie zum Casting und bekam den Job. "Meine Scham stand mir da durchaus im Weg. Aber ich glaube, die haben begriffen, das meine Sensitivität ein Vorteil war. Meine Gesprächspartner öffnen sich mir vielleicht etwas mehr, weil sie merkten, dass ich ihnen keinen Stress mache. Ich war aber nie unkritisch, nur eben auf meine Weise."

Libbertz machte trotz der üblichen Anfeindungen Karriere. Sie wurde 2017 die erste Frau in Deutschland, die ein Champions-League-Spiel moderieren durfte. Berühmt wurde sie allerdings durch einen Unfall: Vor einem Spiel zwischen Mainz und Stuttgart führte sie live ein Interview mit Fredi Bobic, als von hinten ein Ball heransauste und ihr an den Hinterkopf donnerte. Hoppla. Eineinhalb Millionen Menschen schauten sich die Szene seitdem im Internet an, ausländische Sender wie die CBS rissen sich um Interviews mit ihr. Ausgerechnet dafür für hat sie sich nie geschämt: "Ich wusste ja, dafür kann ich nichts."

Deswegen kommt die Szene in ihrem Buch auch nicht vor. Die Autorin unterscheidet genau zwischen Peinlichkeiten, also der akuten Scham, und der destruktiven Scham. Die ist für Libbertz "der innere Diktator", der Körper und Seele vergiftet. Der Münchner Psychologe und Stresstrainer Jens Corssen nennt sie "Quatschi", die Stimme, die ständig nervt; Brené Brown nennt sie "das Grundübel der Gesellschaft", sie bringt die Menschen dazu zu hungern, zu futtern, aus Frust zu shoppen, protzige Autos zu fahren, Alkohol zu trinken, andere zu beschämen oder sich selbst zu bestrafen. Libbertz musste dies erst selbst an Leib und Seele erfahren. Das "bitterböse Erwachen" kam über sie bei einer Ayurvedakur in Südindien: "Ü40, kinderlos, unverheiratet, allein. Nach außen zwar erfolgreich, aber innerlich ein Scherbenhaufen." Sie weinte in den Yogastunden. Zur Kur gehörte, ein Brechmittel zu nehmen. Aber sie würgte nur, übergab sich nicht, und schämte sich auch dafür. "Elende Versagerin", fand sie, "nicht mal kotzen kannst du." Der Tiefpunkt. Ihr Arzt, Dr. Vignesh, brachte das Dilemma, das viele im Westen, gerade Frauen beträfe, auf den Punkt: "Sie werden so erzogen, dass sie sich nie genügen. Sie schlussfolgern, sie seien es nicht wert, dass das Leben ihnen Fülle schenkt oder dass sie geliebt werden. Sie denken, sie seien schlecht." Und dafür bestrafen sie sich selbst.

"Sie können nichts dafür. Punkt." Dies zu erkennen sei ein erster Schritt, die Abwärtsspirale zu stoppen. Das fast schon süffig zu lesende Buch bringt viele solche Einsichten. Anders als ihre bisherigen Bücher, etwa eines zusammen mit Marcel Reif über die Bundesliga, sei es ihr eine "absolute Herzensangelegenheit" gewesen, dies zu schreiben: "Nicht, um mal wieder in den Medien zu sein. Wenn man nach einem langen Prozess da angekommen ist, wo ich bin, geht es auch darum, anderen zu helfen." Sie zeigt, welchen Weg sie als "Schamprofi" aus ihrem "Seelensumpf" gefunden hat, besser: welche Wege. Sie singt seit Jahren das Hanuman-Mantra, ein Gebet an einen indischen Affengott; sie las den Freiheitsphilosophen Krishnamurti "rauf und runter", sie traf peruanische Schamanen, indischen Brahmanen und westliche Neurowissenschaftler und fand andere "Reisebegleiter", "zum Glück auch hier in München". In seiner Praxis an der Maximilianstraße brachte ihr Ulrich Bauhofer, der Doktor, der mit dem BeatlesGuru Maharishi Mahesh Yogi in Rishikesh lebte und Ayurveda nach Deutschland holte, das Meditieren bei. Der Fußball-Fan wurde zum guten Freund und freut sich über Libbertz mustergültige Entwicklung: "Sie hat so intensiv an sich gearbeitet", sagt er. Gerade ihr ganzheitlicher Ansatz, die Scham psychologisch, körperlich und spirituell zu packen, habe zum Ziel geführt. "Sie ist gewachsen, aufgeräumt, angekommen, einfach glücklich."

"Früher, das war wie ein anderes Leben", sagt Jessica Libbertz und lächelt gelassen. Sie hat sich damit nicht nur Freunde gemacht, dass sie so offen über Energiewirbel, Quantenphysik, die durch das Hirn konstruierte Wirklichkeit und den Affen-Superman Hanuman geredet und ebenso offen die Probleme der anderen angesprochen hat. Aus einem Freundeskreis von Fußballtrainerfrauen sei sie so schnell wieder rausgeflogen, wie sie aufgenommen worden war. Andererseits hat ihr eine vedische Astrologin am 8. Januar 2018 vorhergesagt, sie würde in den nächsten drei Monaten heiraten. "So ein Quatsch", dachte sich der Dauer-Single. So wie Hanuman die Königskinder Sita und Ram vereinte, führte das Schicksal drei Monate später Jessica Kastrop mit Roman Libbertz zusammen, dem Münchner Schriftsteller, Maler und Fußball-Poeten der Zeit. Noch mal drei Monate später heirateten sie am Tegernsee, zogen samt Hütehund Han Solo nach Bogenhausen und spielen - jetzt ohne Scheu - Tennis. Ohne ihren Sieg über die Scham wäre das nicht passiert, da ist sich Jessica Libbertz sicher.

Nun hat nicht jeder so einen herzlichen Partner, mit dem er offen über seine Abgründe reden kann - was im übrigen ein gutes Gegenmittel wäre. Denn die Scham ist "wie ein Vampir", sagt Libbertz, "sobald man sie ans Tageslicht zerrt, zerfällt sie zu Asche".

Sie gibt im Buch noch andere Tipps, ihre "Meds", die ihr geholfen haben: ein Dankbarkeitstagebuch führen, meditieren, auf Zucker verzichten, aber auch mal eine Weile gar nicht aufs Gewicht achten, denn es gehe eben nicht um Selbstoptimierung, diese Pest des Internetzeitalters. Sie selbst steigt also nicht mehr auf die Waage, dafür jeden Morgen in ihrer Wohnung auf einen Stuhl. Da sieht sie die Welt aus einer anderen Perspektive und ruft etwas wie: "Lieber Tag, ich freue mich, dass du da bist!" Das dauert nur 20 Sekunden.

Man muss nicht Profisportler sein, um diese Übung zu meistern - aber gerade die hätten es nötig in ihrem System, in dem Schwäche nichts zu suchen hat, in dem Fußballer, Trainer und Fans sich gegenseitig demütigen und beschämen wie zuletzt Jogi Löw die geschassten Nationalspieler Hummels, Boateng und Müller (und retour). Im schlimmsten Fall brechen sie zusammen, wie Robert Enke, der Suizid beging. Nur die wenigsten sind wirklich stark und offenbaren sich, die Feinen und Sensiblen wie Per Mertesacker oder Sebastian Deisler. "Die ganze Bundesliga sollte das Buch lesen", sagt Jessica Libbertz, "das würde vielen die Angst nehmen." Wobei sie bestimmt nicht fachblind ist: Die Scham im Fußball ist nur ein Spiegel für die Scham in der ganzen Gesellschaft.

© SZ vom 09.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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