Rosafarbene und weiße Trikots. Die Gegentribüne des Münchner Olympiastadions sieht am Samstag zum Achtelfinalspiel der Europameisterschaft (EM) Deutschland gegen Dänemark aus, als hätte einer von oben eine überdimensional große Tüte zweifarbige Marshmallows abgeworfen. Füllkrug, Wirtz und Musiala stehen auf der Rückseite der Trikots. Diese drei Namen sind eindeutig in der Überzahl. Zum ersten Mal bei dieser EM können 20 000 Menschen auch im Olympiastadion Fußball schauen.
Es ist 18.30 Uhr. Die schwülen Sommertemperaturen haben es in sich. Die Wasserhähne in der Nähe des Eingangs sind heiß begehrt. Köpfe werden unters Wasser gehalten, Trinkbecher gefüllt. An den Getränke-Buden stehen ziemlich lange Schlangen. Das andere Achtelfinale, Italien gegen die Schweiz, läuft noch, da ist ein Großteil der Gegentribüne im Stadion schon voll. Doch immer mehr Menschen strömen aus allen Richtungen des Olympiaparks zum Nordeingang, zwängen sich durch schmale Schleusen zum Einlass. Mancher muss umkehren. Die Security hat wohl Glas- oder Trinkflaschen aus Metall in den Taschen und Rucksäcken entdeckt. Die sind verboten. Um 19 Uhr ist die Kapazität von rund 45 000 Menschen ausgeschöpft, berichtet später die Polizei. Es bleibt den ganzen Abend ruhig, außer ein bisschen beschlagnahmter Pyrotechnik kommt es zu keinen nennenswerten Vorfällen.
Die Stadt München und die Olympiapark München GmbH (OMG) wollten noch mehr Fans Public Viewing ermöglichen. Trotz der Sanierungsmaßnahmen des Stadions. Drei Leinwände stehen in der Fan-Zone rund um den Olympiasee ja schon. „Aber warum sollte man die wunderbare Stimmung in der Fanzone nicht auch noch ins Stadion bringen“, sagt OMG-Chefin Marion Schöne.
Ganz oben im Block L, in der letzten Reihe, hat sich eine Männer-Gruppe aus dem Schwarzwald gute Plätze gesichert. Die Herren seien selbst irgendwann mal alle leidenschaftliche Fußballtrainer oder -spieler gewesen, erzählen sie. Als sie gehört hätten, dass das Olympiastadion öffnet, sei für sie sofort klar gewesen: Da müssen sie hin. Auch wenn es ein komisches Gefühl sei, in einem Stadion zu sitzen und dann doch nur auf eine Leinwand zu schauen. Sagt Daniel, 51. Auch, weil diese etwas klein sei. Aber verschmerzbar. Alles allemal viel besser als irgendwo anders. Darin sind sich die „Jungs“ einig.
160 Quadratmeter. So groß ist die Leinwand, die das Team der OMG in kurzer Zeit aufgetrieben hat. Denn leicht war es sicher nicht, während der EM mal eben ein Riesen-Kino für Public Viewing herzuzaubern. Aber in Spielberg in Österreich wurde man laut OMG tatsächlich fündig. Eigentlich war die Leinwand für die Übertragung des Formel-1-Rennens, den Großen Preis von Österreich, gedacht. Sie war wohl übrig geblieben. Davon weiß Fan Christian Pleininger, 50, aus Linz zwar nichts. Aber er schreit gern für Deutschland. Wenn Österreich gegen Deutschland spielen müsste? „Na, dann verhalte ich mich neutral“.
3:0, 2:1. Für Deutschland natürlich. Auf den ausgebleichten, lindgrünen Stadion-Sitzen wird gefachsimpelt. Man hat ja Zeit. Noch passiert ja nichts. Alexa Kleen, 52, und Oliver Gutschmidt, 49, sind aus Bremerhaven gekommen. Sie gehören der Trikot-Fraktion „Füllkrug“ an. „3:1“, sagt der 49-Jährige. Natürlich mache „seine Nummer neun“ auch ein Tor. Gut finden beide, dass endlich wieder „richtige Typen“ wie Niclas Füllkrug und Florian Wirtz in der deutschen Nationalmannschaft seien, die Schwung hineinbrächten, die anderen mitreißen würden.
„Gebt mir ein H“, ruft ein Animateur in der Stadionarena ins Mikrofon. Die Menge ruft „H“. Am Ende grölt die Masse ein lautes „Humba, humba Täterä“, gefolgt von La-Ola-Wellen und weiteren bekannten Fußballgesängen. Plötzlich wird nach Dortmund geschaltet. Der Bus der Nationalmannschaft fährt ein. Lautes Johlen. Klatschen. Die Stimmung ist ausgelassen, recht musikalisch. Denn schon wieder wird gesungen und plötzlich werden unzählige Deutschland-Fahnen geschwenkt. Die müssen vorher wohl gefaltet in Rucksäcken auf ihren Einsatz gewartet haben.
Es geht los. Gut los. Mit viel Tempo und Ballbesitz der deutschen Spieler. Bei jedem guten Pass in Richtung dänisches Tor stehen die Menschen auf. Bei jedem Fehlpass wird laut gestöhnt, jede Fehlentscheidung des Schiedsrichters ausgebuht. Natürlich auch die des nicht gegebenen Tores in der vierten Minute. „Ich möchte nicht Schiedsrichter sein“, sagt ein Kumpel von Daniel. „Aber das war jetzt wirklich Quatsch“.
Im Münchner Olympiastadion ist es ruhig geworden. Keine Gesänge. Die Dänen finden besser ins Spiel. Dann passiert das, wovor Meteorologen gewarnt hatten: Blitze direkt über dem Dortmunder-Stadion, es schüttet, es hagelt. Die Partie wird unterbrochen. Dass halbnackte Dänen unter Wasserfällen tanzen, die durch das Dach drücken oder Fans unter der Deutschland-Fahne der Regenwand trotzen, wird in München beklatscht.
Das Spiel geht weiter. Auch wenn es noch regnet. Kurze Zeit später regnet es auch in München. Nicht Wasser, sondern Bier. Die Becher leeren sich bei Jubel-Gestik. Endlich das Tor! 15 Minuten später noch einmal. Fans klatschen sich ab, liegen sich in den Armen.
„Oh, wie ist das schön“. „Oh, wie ist es schön“. Der Gesang der Fans nimmt kein Ende. 2:0 ist der Endstand. Keiner der neuen Tribünen-Bekannten hat richtig getippt. Aber das ist nicht mehr wichtig. Seit einigen Stunden hat man in der Hitze zusammen gesungen, zusammen mitgefiebert. Das eint für einen Abend. Man umarmt sich, als ob man sich schon eine Ewigkeit kennen würde.
„Mich berührt es, wenn alle Fans friedlich miteinander feiern“, sagt OMG-Chefin Marion Schöne und zieht damit eine Art Bilanz der vergangenen zwei Wochen im Fan-Park. Auch im Stadion war es so. Deshalb könnte es sein, dass die OMG beim nächsten Spiel der Deutschen noch einen weiteren Teil des Stadions öffnet. Für weitere 10 000 Fans.
„Oh, wie ist das schön“. Auf dem Heimweg singen die Fans leise. Ein junger Mann im rosafarbenen Trikot steht am Olympiasee, schaut noch einmal in Richtung Stadion und resümiert: „Ein gutes Spiel“.