Sehr viele Romane behandeln zur Zeit das Thema „Verlust“. Aktuell auf den Bestsellerlisten steht zum Beispiel Caroline Wahls „Windstärke 17“, in dem eine junge Frau den Tod ihrer Mutter verarbeitet. In „So wie Du mich kennst“ von Annika Landsteiner, einer von mir hochgeschätzte Autorin, begibt sich Karla auf die Suche nach Spuren ihrer toten Schwester und Daniela Kriens Protagonistin Linda erkämpft sich in „Mein drittes Leben“ einen neuen Alltag nach dem Tod ihrer Tochter. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. All diesen Büchern ist gemeinsam, dass die Hauptpersonen, meist Familienmitglieder, intensiv nach Erklärungen suchen, um damit eine Lücke zu füllen. Manchmal gelingt es, manchmal finden sich völlig neue Wege und manchmal bleiben die Menschen verlassen und verzweifelt zurück.
In Zora del Buonos neuem Buch „Seinetwegen“ geht es um den Vater, den die Autorin nie wirklich kennengelernt hat. Sie ist 60 Jahre alt, als sie sich auf die Suche nach dem „Töter“, wie sie ihn nennt, ihres Vaters macht. Von ihm kennt sie nur die Initialen „E.T.“. Der Vater starb, als Zora acht Monate alt war bei einem Autounfall, den E.T. verursacht hat. Die Tochter hat ihren Vater nie vermisst, wie sie immer wieder betont, aber die Auswirkungen des Unglücks sind trotzdem schwerwiegend und intensiv. Im Laufe der Jahrzehnte hat sie eine große Wut und Abneigung gegen den Menschen E.T. entwickelt, der für so vieles in ihrem Leben verantwortlich ist. Viele Jahre war der Fall für sie nebulös. Mit ihrer Mutter konnte sie nicht darüber sprechen. Jetzt aber, da die Mutter in Demenz versinkt, ist es Zora möglich, Wahrheiten und eventuell Genugtuung zu finden. Entstanden ist ein Bericht über die Suche nach Fakten, aber auch eine ausführliche und vielschichtige Abhandlung über Schuld, Moral, Familiengeheimnisse und -lügen, gesellschaftliche Konventionen, kulturelle Unterschiede, individuelle Sicht auf Dinge und falsche Vorstellungen und Erinnerungen in alle Richtungen. Das ganze gespickt mit Erkenntnissen aus Statistiken und Forschung. Del Buono geht fast akribisch vor und lässt kaum einen Aspekt unberücksichtigt.
Ich habe „Seinetwegen“ mit sehr großem Interesse und Anteilnahme gelesen und wieder einmal wurde mir deutlich, wie einzelne Ereignisse ganze Leben beeinflussen können. Es bedarf nur Bruchteile einer Sekunde und eine Verkettung von Geschehnissen und schon steht die Welt Kopf. Und manchmal kann man sie nicht wieder geraderücken.
Nicola Bräunling ist Inhaberin der Buchhandlung Bräunling in Puchheim. Regelmäßig stellt sie im Wechsel mit Katrin Schmidt und Helen Hoff von der Buchhandlung Lesezeichen in Germering ihr aktuelles Lieblingsbuch vor.