Zeitzeugenberichte aus dem Krieg:Bewegende Erinnerungskultur

Zeitzeugenberichte aus dem Krieg: Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, wie sie der Karikaturist Guido Zingerl sieht.

Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, wie sie der Karikaturist Guido Zingerl sieht.

(Foto: Günther Reger)

In Puchheim wird über das Buch des Wehrmachtssoldaten Ulrich Frodien diskutiert, in Eichenau tauschen sich Senioren über ihre Erlebnisse in der Nazi-Dikatur aus

Von Peter Bierl, Puchheim/Eichenau

Sie liegen in einer Stellung, junge Männer voller Angst mit coolen Sprüchen. Dichter Nebel zieht auf. Handgranaten fliegen, Schüsse fallen, sie flüchten. Die Kameraden hinten strafen sie mit stiller Verachtung, ein Oberleutnant schickt sie zurück in den Graben. Einige Zeit später wird die Einheit in einem Dorf von Partisanen angegriffen. Sie schlagen den Angriff zurück, zünden die Häuser an, Ulrich Frodien mäht die Flüchtenden mit einem MG nieder. Er und sein Kamerad sollen einen gefangenen Bauernjungen mit der Pistole erschießen, dessen Mutter wirft sich ihnen weinend zu Füßen. Sie lassen den Burschen laufen, nachdem ihr Unteroffizier verschwunden ist. Schließlich wird Frodien schwer verwundet, seine Einheit im Dezember 1944 in Budapest aufgerieben.

Die Lesung im Bürgertreff Puchheim am Donnerstag ist eindrucksvoll, dank Robert Hofmann, der die Passagen vorträgt, und der Art, wie Frodien sich mit den Geschehnissen auseinandergesetzt hat. Der spätere SZ-Redakteur hatte sich 1944 im Alter von nicht einmal 18 Jahren freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst und Nazi-Lehrer hatten ihn geprägt: Mitleid ist deutschen Volksgenossen und Kameraden vorbehalten, allen anderen gebühre mitleidlose Härte und Brutalität. "Wir männlichkeitsbesoffenen Narren fanden das erstrebenswert", schrieb Frodien. In der kurzen Ausbildung ist er der beste Schütze der Kompanie, darf das modernste Maschinengewehr bedienen und ist stolz darauf - bis zum ersten Fronteinsatz.

Lesung Puchheim

Der Schauspieler Robert Hofmann liest aus Frodiens Buch "Bleib übrig".

(Foto: Günther Reger)

"Zeitzeugen sind der letzte direkte Zugang zur Vergangenheit", sagt Christian Packheiser. Der Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München arbeitet an einem Forschungsprojekt über Privatheit im Nationalsozialismus mit und konzentriert sich auf Soldaten zwischen Fronteinsatz und Familie. Zusammen mit Erich Hage, ebenfalls Historiker und Vorsitzender der Volkshochschule Puchheim, und den Besuchern der Lesung, die NS-Regime und Krieg allenfalls als Kinder miterlebt haben, diskutiert Packheiser an diesem Abend über das Buch von Frodien.

Was dessen Bericht heraushebt, ist seine selbstkritische Haltung. Die Darstellung ist nicht chronologisch. Berichte von der Front sind unterbrochen durch Rückblicke auf die Erziehung, Reflexionen über die eigene Schuld, das Mitmachen. Frodien kontrastiert das Chaos und den Zusammenbruch in Breslau, als die Rote Armee seine Vaterstadt einnimmt, mit dem Jubel der Bevölkerung, als der Führer zu Besuch weilte. "Es ist ein gelungenes Werk, ein Mahnmal", sagt Christian Packheiser.

Diese persönliche Erinnerungskultur entwickelte sich allmählich seit den späten Siebzigerjahren. Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht sei ein Katalysator gewesen, erzählt der Historiker. Zeitzeugen schrieben ihre Erinnerungen auf, Kinder und Enkel entdeckten im Nachlass oder auf dem Dachboden Tagebücher und Feldpostbriefe. Alle diese Zeugnisse sind mit Vorsicht zu genießen. Wer in der NS-Zeit schrieb, war näher an den Ereignissen dran, kannte das Ende nicht und ließ der Gesinnung freien Lauf. Manche hatten aber Angst vor Zensur oder wollten Angehörigen zu Hause das Schlimmste ersparen. Spätere Erinnerungen sind hingegen von Werthaltungen der Nachkriegszeit überlagert, erklärt der Experte. Die ganze Bandbreite sei zu finden, von extrem selbstkritisch bis zu Darstellungen, die dem Wertsystem der NS-Zeit verhaftet geblieben seien, manchmal unbewusst.

In der Seniorenbegegnungsstätte in Eichenau tauschen sich Menschen am Mittwoch in einer Runde über Kriegserlebnisse aus. Fast alle waren damals Kinder, manche im Grundschulalter, einige sind in der Nachkriegszeit geboren, die meisten Jahre und Jahrzehnte später nach Eichenau gezogen. Sie erzählen, wie es in Berlin oder Mainfranken war, oder wie die Eltern es ihnen erzählt haben. Ein Mann weint, als er die Vergewaltigung seiner Mutter in Tschechien erwähnt.

Zeitzeugen Kriegsende

In Eichenau tauschen sich Reinhold Wiesmeier, Franz Kopetschny und Regine Gerleigner über ihre Kriegserlebnisse aus.

(Foto: Günther Reger)

Es gibt ein bisschen Unmut, weil zugezogene Großstädter finden, sie hätten Schlimmeres erlebt als die Einheimischen in ihrem abgelegenen Kaff, in das die Amerikaner am 30. April 1945 kampflos einrückten. Zwei Frauen erinnern sich, wie sie am Starzelbach standen, als die Panzer und Jeeps kamen. Die Amerikaner seien ja immer nett zu Kindern gewesen und hätten sie reichlich mit Süßigkeiten beschenkt. Ein Mann liest einen Bericht vor, den er im Archiv gefunden hat. Einige schmunzeln, weil sie den Helden der Story als Lehrer kennenlernten, ein überzeugter Nazi, von dem es da heißt, er habe als Führer des Volkssturms Blutvergießen verhindern wollen. "Das ist sehr beschönigt", finden einige. Einer erzählt, dass sie einige Zeit darauf gehofft hätten, die Japaner würden das Blatt schon noch wenden und die Amis besiegen.

Eine Münchnerin liest aus ihrem Tagebuch vor. "Unser freies Deutschland steht vor dem Zusammenbruch", hat sie als junge Frau im Luftschutzkeller notiert. Sie empört sich über jene, die am Straßenrand stehen und den Amerikanern mit weißen Taschentüchern zuwinken. "Wie ekelten mich diese Menschen an", schreibt sie über "Ausländer und KZler", denen sie bald in der Stadt begegnet, als sie mit ihrer Familie beim Hamstern und Plündern unterwegs ist.

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