Nicht einmal die Hälfte der Landkreisbürger ist vor fünf Jahren zur Europawahl gegangen, bescheidene 46 Prozent betrug die Wahlbeteiligung. Seither ist der Ruf von Europa und von Politik im Allgemeinen nicht unbedingt besser geworden. Deshalb ist es jenen vier Politikern, die am Sonntagvormittag im Puchheimer Festzelt über Europa diskutieren, ein Anliegen, die Menschen zu mobilisieren, damit sie am 26. Mai wählen gehen. "Die EU ist das Friedensprojekt unserer Zeit", sagt der CSU-Kandidat für das Europaparlament, Benedikt Flexeder. Fabian Mehring (Freie Wähler) erklärt den Termin sogar zur "Schicksalswahl", denn dann werde sich entscheiden, ob Europa den Rechtspopulisten überlassen werde oder ob Demokraten es in eine gute Zukunft führen könnten.
Etwa 120 Besucher haben sich an den ersten beiden Tischreihen eingefunden, um Ansichten zu Europa anzuhören und möglicherweise Entscheidungshilfen für die Wahl zu erhalten. Der Bierzeltdiskurs, den die Stadt Puchheim seit Jahren vor Wahlen zusammen mit dem SZ-Forum veranstaltet, zieht regelmäßig einen harten Kern politisch Interessierter an. Auch im hinteren Bereich des Bierzelts herrscht zunehmender Betrieb, der aber wohl mehr mit dem Verzehr von Weißwürsten oder eines Sonntags-Grillhendls zu tun hat.
Von den Leuten auf dem Podium kandidiert nur der 29-jährige Elektroniker Benedikt Flexeder (CSU) aus dem Landkreis Freising für das Europaparlament, die anderen drei sind Landtagsabgeordnete und allesamt Mitglieder im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten: Markus Rinderspacher (SPD), der Bekannteste in diesem Quartett, sitzt seit 2008 im bayerischen Landtag, ist dort Vizepräsident und mit 49 Jahren Ältester auf dem Puchheimer Podium, wie er selbst amüsiert feststellt - "wenn man den Bürgermeister weglässt". Fabian Mehring, 30, ist promovierter Politikwissenschaftler aus dem Landkreis Augsburg und gehört dem Landtag seit einem halben Jahr als Abgeordneter der Freien Wähler (FW) an. Der Grüne Florian Siekmann, der vor einem Jahr seinen Bachelor in Chemie und Biochemie gemacht hat, ist mit 23 Jahren jüngstes Mitglied des Landtags. Die Moderation übernimmt Puchheims Bürgermeister Norbert Seidl, 55. Mit seinen Zwischenfragen hält er die Diskussion lebendig und sorgt dafür, dass die Antworten der vier Männer nicht zu Monologen werden.
Vier Männer, ja. "Wo sind denn die Frauen?", will Seidl gleich zu Beginn wissen. Man ist sich einig, dass Politik und Parteien mehr Frauen brauchen, aber wie kriegt man sie dorthin? Die Frauen müssten in die Politik gehen, empfiehlt CSU-Kandidat Flexeder, der einzige auf dem Podium übrigens, der kein Trachtenobergewand gewählt hat für diesen Festzeltbesuch, sondern ein ganz normales Sakko. Dafür spricht er als einziger mit bairischem Zungenschlag. Florian Siekmann bemängelt, dass es der Gesetzgeber nicht geschafft habe, bessere Rahmenbedingungen für Frauen zu schaffen. Fabian Mehring lehnt entsprechende Wahlrechtsreformen "oder eine Bevormundung der Wähler" ab. Und so wird schon zu Beginn deutlich, wie sehr Politik das Bohren dicker Bretter ist.
Erst recht, wenn es um komplexe Themen und komplizierte Lösungsversuche geht - wie beim Brexit. Wenn man Nationalisten die Hoheit überlasse, "dann entsteht am Ende Chaos", sagt der SPD-Politiker Rinderspacher, und so ähnlich hatte das auch schon Katharina Schulze, die grüne Fraktionsvorsitzende im bayerischen Landtag, drei Tage zuvor im Puchheimer Festzelt formuliert. "Wer hat denn jetzt die Nase voll von den Briten?", will Moderator Seidl deshalb von den Besuchern wissen. Niemand. SZ-Redakteur Stefan Salger sucht im Publikum nach Erklärungen. Man bräuchte die Briten zusammen mit den nordischen Ländern für freien Handel und gegen eine Verschuldungsunion, argumentiert eine Frau. Ja, der freie Handel habe Europa gut getan, antwortet ihr Markus Rinderspacher. Doch "das Europa der Bürger ist dabei zu kurz gekommen". Der kleine Handwerker oder der Festwirt in Puchheim, sie alle würden brav ihre Steuern zahlen, nur die großen Konzerne nicht, fährt der SPD-Politiker fort: "Da stimmt was nicht!" Man müsse deshalb der Globalisierung der Wirtschaft eine Globalisierung der Gerechtigkeit beiseite stellen.
Der Idee eines zweiten Referendums in Großbritannien können alle etwas abgewinnen. "Wenn die Politik keine Antwort beim Brexit findet, dann muss sie die Frage an die Menschen zurückgeben", fordert Florian Siekmann. Benedikt Flexeder bleibt skeptisch: Wie aber wolle man als EU "klare Kante gegen Länder wie Polen mit Rechtsstaatsvergehen" zeigen, "wenn wir nicht sagen: Schluss mit den ewigen Verlängerungen!". Fabian Mehring indes sieht in der Tatsache, dass sich die Politik so schwer tut, einen Deal zustandezubringen, ein Signal an andere, möglicherweise austrittswillige Staaten, dass es besser sein könnte, "drin zu bleiben". Und SPD-Mann Rinderspacher bedauert, dass es keinen Spitzenpolitiker in der EU gebe, der den Briten deutlich machen würde, sie sollten in der EU bleiben. "Ich glaube, Helmut Kohl hätte es getan". Der CDU-Kanzler. Sagt der SPD-Mann.
Warum tun sich die Menschen so schwer mit Europa? Man habe in der öffentlichen Debatte den Rechtspopulisten überall in Europa die Bühne überlassen und "die Leute glauben lassen, bei der EU gehe es um die Krümmung der Gurken", schimpft Mehring. Man sei zu müde geworden, die Vorteile in den Diskurs "einzupreisen", zum Beispiel die Reisefreiheit, die gemeinsame Währung, den Frieden oder auch die deutschen Interessen, die über die EU vertreten würden: Denn 80 Millionen Deutsche entsprächen gerade mal drei Städten in China, aber 500 Millionen Europäer "sind ein Spieler unter den Staaten der Erde". Grünen-Politiker Siekmann ist der Meinung, dass die EU mit falschen Versprechungen - beim Brexit, in Polen oder Ungarn - als Feindbild installiert worden sei. Auch CSU-Mann Flexeder sieht die europäische Idee "auf der Strecke geblieben", sie werde assoziiert mit Bürokratie und Bevormundung.
Nach der Pause werden die schriftlich vorgebrachten Fragen aus dem Publikum beantwortet. Es geht um europaweiten Mindestlohn, Bürokratieabbau, Agrarsubventionen (Rinderspacher: "Jetzt wird Masse statt Klasse gefördert. Wir müssen aber Subventionen an Umwelt-, Klima-, Tierschutz knüpfen."), Artenvielfalt (Flexeder: "Das Bauernbashing muss aufhören") und den Umgang mit Ländern wie Polen oder Ungarn. "Ich warne davor, sie rauszuschmeißen", sagt Flexeder. Stattdessen: im Gespräch bleiben. Mehring indes will bei den Subventionen kürzen, wenn Staatenlenker wie Orban sich beispielsweise nicht am europäischen Asylrecht beteiligten. Flexeder wundert sich indes darüber, dass ausgerechnet Griechenland, "wo vor fünf oder zehn Jahren beinahe die Lichter ausgegangen sind", nun den Außengrenzschutz der EU erledigen soll. Hier müsse die EU mithelfen.
In der Pause ist Seidl, der als Vertreter der Stadt die Zusammensetzung des Podiums bestimmt hat, dann noch gefragt worden, warum denn kein Vertreter der AfD dabei sei. Vier Parteien, rechtfertigt er sich, "damit ist es gut". Parteien, "die sehr viel mit Stimmung und Emotionen arbeiten", wolle man auf dem Puchheimer Volksfest kein Podium bieten. Dafür gibt es Applaus - und vereinzelt ein paar leise Buh-Rufe.