Süddeutsche Zeitung

Traumata:Wenn der Kopf zum Schlachtfeld wird

Skender Munishi hilft Flüchtlingen bei der Verarbeitung ihrer traumatisierenden Erlebnisse. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie kam im Jahr 1992 selbst als Flüchtling aus dem Kosovo nach Germering

Von Felix Sommerfeld, Fürstenfeldbruck

Krieg, Vertreibung, Gewalt, Verfolgung, Zerstörung, Vergewaltigung, Folter. Traumatisierende Ereignisse. Viele der Flüchtlinge, die ihre Heimatländer verlassen und in Deutschland Schutz suchen, durchleben sie. Kinder sehen den Mord an ihren Eltern. Väter die Vergewaltigung ihrer Tochter. Eltern werden ihre Kinder weggenommen. Gräuel.

Um die entstandenen Traumata überwinden zu können, wird in diesen Fällen dringend psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe benötigt. "Etwa 70 Prozent meiner Patienten weisen eine posttraumatische Belastungsstörung auf. Allein das Durchlebte während der Flucht kann zu einem Trauma führen", sagt Skender Munishi, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. "Die restlichen 30 Prozent leiden an Depressionen, Angstzuständen, oder Schizophrenie."

Seit zwei Jahren betreut er Flüchtlinge in Fürstenfeldbruck und München. Seine Patienten stammen aus Syrien, Libyen, Eritrea, Afghanistan, Somalia - nahezu allen Ländern, die man als Krisen- oder Kriegsgebiete beschreiben würde. Pro Quartal sind bei ihm 35 Flüchtlinge aus Fürstenfeldbruck und 170 aus München zur Behandlung - in seinen Praxen, im Fliegerhorst und in der Bayernkaserne. Doch auch aus Regensburg, Bayreuth, Augsburg oder Ingolstadt kommen Flüchtlinge zu ihm. Sie waren zunächst in der Region München oder Umland untergebracht, sind aber verlegt worden.

Der Bedarf an psychiatrischer Diagnose und Versorgung unter den Flüchtlingen ist groß, besonders unter jungem Menschen. Die unbegleiteten Jugendlichen benötigen kompetente psychiatrische Betreuung. Wegen des jungen Alters und des Fehlens von Bezugspersonen leiden Minderjährige besonders unter dem Erlebten während des Kriegs und auf der Flucht.

Wie kann es sein, dass ein Facharzt allein zusätzlich zu seinen eigenen Patienten für über 200 Flüchtlinge pro Quartal zuständig ist? Das ist zunächst damit begründet, dass viele niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten keine Flüchtlinge annehmen. Einerseits wegen ohnehin langer Wartelisten, andererseits wegen Unwägbarkeiten bei der Behandlung von Flüchtlingen. Die Abwicklung und die Abrechnung der Sitzungen, aber auch der oft notwendigen Dolmetscher über die Sozialämter, die Regierung und die Kassenärztliche Vereinigung bergen Schwierigkeiten.

Neben Munishi leisten zwei Organisationen in München und Umgebung psychiatrische oder psychotherapeutische Betreuung in größeren Ausmaß: Refudocs und Refugio. Der Verein Refudocs bietet ein bis zwei Mal pro Woche psychiatrische Sprechstunden für Flüchtlinge an, sowohl für Erwachsene als auch für Jugendliche. Mathias Wendeborn, Ansprechpartner von Refudocs und Facharzt für Kinder-und Jugendmedizin, sagt: "Wenn gerade kein Psychiater verfügbar ist und der Allgemeinarzt sich in der Lage sieht überbrückend einzugreifen, wird das in Ausnahmefällen versucht. Angestrebt wird aber fachärztliche Versorgung."

Das Beratungs- und Behandlungszentrum Refugio bietet psychotherapeutische Hilfe für Flüchtlinge an. Viele der Psychologen und Psychotherapeuten, die für Refugio arbeiten, sprechen neben deutsch und englisch noch arabisch, italienisch oder französisch. Wie viele psychosoziale Zentren bewegt sich auch Refugio an den Grenzen der Kapazität. Der Freistaat stellt zwar zusätzliche Mittel für Flüchtlinge zur Verfügung, insbesondere für Versorgung und Unterbringung, für psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung allerdings nicht.

"Eine adäquate Behandlung traumatisierter Flüchtlinge ist kaum umsetzbar", erklärt Munishi, der selbst eine Vergangenheit als Flüchtling hat. 1992 ist der gebürtige Albaner aus dem Kosovo nach Deutschland geflüchtet, er war der erste registrierte Flüchtling in Germering. "Ich wurde dort sehr gut empfangen und unterstützt", erinnert er sich. Trotzdem beschreibt er seine Anfänge in Deutschland als beschwerlich. In Folge einer dissoziativen Störung nahm er innerhalb kurzer Zeit über 30 Kilo an Gewicht zu.

Die Dissoziation ist ein Zustand, in dem Wahrnehmungen getrennt voneinander sind, obwohl sie eigentlich zusammenhängen. Sie tritt zumeist unter besonders emotionalen und traumatisierenden Gegebenheiten auf. Auswanderung, Entwurzelung, berufliche und kulturelle Integrationsschwierigkeiten können zur Ausbildung dieses Phänomens beitragen.

Bei Munishi äußerte sie sich in Form von übermäßigem Essen. "Es war mir peinlich zu sagen, dass ich Flüchtling bin", beschreibt er diese Zeit. Es fiel ihm nicht leicht. Erinnerungslücken seien symptomatisch für dissoziative Störungen. Viele traumatisierte Menschen befänden sich in einer Art Trance. Sie nähmen ihre Umgebung nur sehr eingeschränkt wahr. Ihr Bewusstsein sei stark eingeengt. Man könne deshalb nicht davon ausgehen, dass die Flüchtlinge darüber reflektierten, wie sie auf deutsche Einheimische wirkten, stellt Munishi fest: "Die meisten können das höchstwahrscheinlich gar nicht wahrnehmen." Er selbst habe erst spät begriffen, dass das Essen solch unnatürliche Ausmaße angenommen hatte, dass er innerhalb kurzer Zeit enorm an Gewicht zugelegt hatte. Die Symptome einer Dissoziation seien einerseits oft nicht eindeutig, andererseits können sie sich auf viele verschiedene Arten zeigen.

"Flüchtlinge, die Auffälligkeiten zeigen, bekommen das Angebot, bei mir vorstellig zu werden", sagt der Facharzt. Zwei große Hindernisse stünden einer Behandlung immer wieder im Weg. Zum einen die Behörden, zum anderen der Patient selbst. Von behördlicher Seite sei es oft mit Schwierigkeiten verbunden, Flüchtlingen psychiatrische Hilfe zu ermöglichen. Es gebe keine bayernweit einheitlichen Regularien. Zumindest nicht in der Umsetzung. Grundsätzlich hätten Flüchtlinge im Vergleich zu gesetzlich Krankenversicherten einen eingeschränkten Anspruch auf medizinische Versorgung.

Ein Recht auf Behandlung haben sie nur in akuten Krankheitsfällen, manche Behörden legen das restriktiver aus als andere. Der Zugang zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung wird weitgehend verwehrt, weil die Probleme oft chronischer Natur sind. Das kann für Patienten zu einer existenziellen Bedrohung werden.

Durch hartnäckiges Vorgehen hat Munishi dennoch schon viele Patienten in Behandlung bringen können. "Ich mache mich bei den Behörden unbeliebt", sagt er und beschreibt das Vorgehen einiger Behörden als Schikane. Dennoch sei die Situation schon besser geworden: "Im Großen und Ganzen ist es jetzt in Ordnung, trotzdem bleiben nach wie vor einige auf der Strecke."

Obwohl in vielen Fällen konkreter Handlungsbedarf bestehe, gebe es von Seiten der Flüchtlinge Vorbehalte. Das sei kulturell bedingt. Sie kämen aus Ländern, in denen es bedeute, "verrückt" zu sein, wenn man sich in psychiatrische Behandlung begebe. Großfamilien und ein oft enger familiärer Zusammenhalt täten das Übrige dazu, dass psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen vielen sehr fremd seien. Dennoch seien rechtzeitige und kompetente Therapiemaßnahmen bei Flüchtlingen notwendig und unerlässlich. Anderenfalls sei mit therapieresistenten Störungen zu rechnen. Eine Heilung sei dann fast ausgeschlossen. Auch aus rein sozioökonomischer Perspektive habe dies einen Nachteil. Flüchtlinge, die aufgrund einer möglichen Selbst- und Fremdgefährdung als "nicht flugtauglich" eingestuft werden, dürften nicht abgeschoben werden. Munishi stellt resümierend fest: "Bei Bedarf müssen psychiatrische oder psychotherapeutische Maßnahmen umgehend eingeleitet werden. Davon haben der Patient und auch die Gesellschaft den größten Nutzen."

Doch nicht nur die erlebte sexuelle und körperliche Gewalt führt dazu, dass psychische Erkrankungen unter Flüchtlingen um ein Vielfaches weiter verbreitet sind, als unter Deutschen. Das neue Leben hier, die Zustände in den Unterkünften, die Unterbringung auf engstem Raum, eingeschränkter Zugang zu Arbeit und die Ablehnung, die sie erfahren, belasten zusätzlich. Hier würde Munishi sich mehr Offenheit und Initiative der Deutschen wünschen. Er plädiert für mehr Kommunikation, mehr Akzeptanz und weniger Furcht. Munishi: "Natürlich ist das Verhalten einiger Flüchtlinge manchmal nicht in Ordnung." Er selbst erlebe oft, wie Flüchtlinge ihm gegenüber beleidigend, verletzend oder verbal aggressiv auftreten. Patienten erschienen zu Terminen oft unpünktlich oder gar nicht. Termine würden viele Flüchtlinge aus ihren Herkunftsländern nicht kennen. Bestellte Dolmetscher würden wieder nach Hause geschickt. Es sei nicht immer einfach, mit Menschen aus komplett anderen Kulturkreisen zusammenzuarbeiten, "aber am Ende gewinnen beide Seiten", ist sich Munishi sicher, "Ich selbst habe sehr von der Arbeit mit Flüchtlingen profitiert." Er habe seinen Horizont und sein Wissen über Traumata enorm erweitern können. Darüber hinaus habe er wertvolle Erfahrungen sammeln können und erfahre jeden Tag viel Abwechslung.

Auf der anderen Seite nimmt Munishi die Flüchtlinge aber auch in die Pflicht. Er erwartet, dass eine gewisse Dankbarkeit gezeigt wird und fordert Integrations- und Anpassungswillen. "Nirgendwo ist die Versorgung so gut wie hier in Deutschland. Die Wertschätzung hierfür vermisse ich manchmal." Um Flüchtlinge dafür zu sensibilisieren, sieht Munishi in seiner Tätigkeit auch einen sozialpädagogischen Auftrag: "Ich sage immer wieder: Lernt die Sprache, klaut nicht, fahrt nicht ohne Fahrkarte."

Munishi stellt entschlossen fest, dass er die Entscheidung, mit Flüchtlingen zusammenzuarbeiten, wieder treffen würde. Trotz der behördlichen Schwierigkeiten. Trotz der Unzuverlässigkeit einiger Patienten. Trotz der Rückschläge. Um den Menschen zu helfen und weil er die Gewissheit hat, dass viele Flüchtlinge seine Arbeit sehr zu schätzen wissen. Aber auch persönlich fühlt er sich dazu verpflichtet: "Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätte ich nach meiner Flucht 1992 keine Unterstützung erfahren."

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SZ vom 17.02.2016
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