Süddeutsche Zeitung

Therapie:Krise statt Krankheit

Gabriele Schleuning und Susanne Menzel über ihr Konzept einer modernen Psychiatrie

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Wenn Gabriele Schleuning über die Psychiatrie spricht, die sie als junge Assistenzärztin Ende der Siebzigerjahre erlebt hat, dann klingt das nach Szenen wie aus einem schlechten Film. Große Räume, in der Mitte ein Toilettenbereich, darum die Esstische, an der Wand die Betten, verschlossene Türen. Einmal die Woche über den Gang zum Saubermachen in die Wanne. Bei einer Lesung in Fürstenfeldbruck hat sie gemeinsam mit Susanne Menzel nun das Buch "Ins Leben verrückt" vorgestellt und den etwa 40 Besuchen erzählt, wie beide Autorinnen für eine humanere, offene Psychiatrie gekämpft haben.

Am Ende stand 1994 die Eröffnung des Atriumhauses in München. Dort wird ein ähnliches Konzept umgesetzt, wie es in der psychiatrischen Klinik in Fürstenfeldbruck der Fall ist. Offene Türen, Begegnung auf Augenhöhe, Lösungssuche gemeinsam mit dem Patienten, Behandlungsteams, in denen jede Meinung gleich zählt, egal ob die des Arztes, der Pflegekraft, des Psychiaters oder Kunsttherapeuten. Behandlung lieber ambulant oder zu Hause statt stationär, dezentral dort, wo die Menschen leben.

Als Schleuning begann in ihrem Beruf zu arbeiten, hatte die Psychiatrie in Haar einen Einzugsbereich von 2,4 Millionen Menschen aus München und zehn Landkreisen im Umland. Als sie Anfang der Neunziger mit einer Delegation in den Landkreisen unterwegs gewesen ist, habe sie schon mal Sätze gehört wie: "Bei uns gibt es keine psychisch Kranken." Die Belegungszahlen der Kliniken heute erzählen freilich etwas anders.

Der Wunsch, mit Menschen zu arbeiten, die nicht "normal" sind, ist bei Menzel und Schleuning schon in der Kindheit entstanden. "Schon in der Schule hatte ich lieber Freundschaften zu Menschen, die anders waren. Mit 15, 16 Jahren hatte ich eine Ahnung, dass ich mit genau diesen Menschen auch arbeiten möchte", erzählt Schleuning, die mittlerweile in Rente gegangen ist und langjährige Chefärztin des psychiatrischen KBO-Klinkums war. Auch Menzel, die heute als Referentin des ärztlichen Direktors der Isar-Amper-Klinikk arbeitet, erinnert sich an einen besonderen "Erweckungs-Moment". "Mit elf Jahren habe ich ein Buch über eine Kindertherapeutin gelesen, die einem Mädchen hilft. Danach war ich sicher, das ist etwas, wohin ich selbst will. Menschen verstehen und ihnen helfen."

In ihrem Buch plädieren die Autorinnen dafür, statt von Krankheit besser von Krise zu sprechen. "Das Konzept der Krisenintervention ist in Deutschland noch nicht so etabliert. Genau dahin wollten wir mit dem Atriumhaus gehen." Es gehe darum, sich vom defizitorientierten Denken zu lösen und die Krise als Chance zu verstehen. Krise, das impliziere Dynamik, einen Anfang und ein Ende. Etwas, in das man hineinkommt, aber auch wieder heraus, mit der richtig Begleitung sogar gestärkt. "Es gab nicht wenige Kollegen die in der Diskussion Zweifel daran hatten, ob Krisen wirklich keine Krankheiten sind", sagt Menzel. Allerdings zeige der Erfolg dieses Ansatzes, dass er durchaus sinnvoll sei.

Wo die beiden Autorinnen die Psychiatrie in 30 Jahren sähen, fragt Moderator Nicolay Marstrander, Leiter der psychiatrischen Klinik in Fürstenfeldbruck, zum Abschluss des Abends. Wenn bis dahin überall das offene Psychiatriekonzept eingeführt wird, dann sei das schon ein großer Schritt, sagt Schleuning. Menzel ergänzt, sie hoffe, dass mehr darauf eingegangen werde, was der einzelne brauche, dass dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückten.

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SZ vom 04.01.2020
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