Einen großen Moment bekommt Amalie noch, bevor die Welt endgültig zerfällt. Einmal - zum ersten Mal - darf sie vielleicht ganz sie selbst sein, befreit von den Kräften, die an ihr zerren. Im grünen Pelzmantel ergreift Schauspielerin Raphaela Baumgartner das Mikrofon, der Scheinwerfer ist nur auf sie gerichtet. Ansonsten ist es dunkel und still auf der Bühne. All ihre Emotionen, ihre Hoffnung und Verzweiflung legt sie in die düster-melancholische Pop-Ballade über eine aussichtslose Liebe. Noch einmal idealisiert sie den Mann, dessen Affäre sie ist und der sie egoistisch mit sich in den Abgrund zieht. Aber sie schwankt, liebt, verzagt daran, dass sie ihm nicht helfen, ihn nicht reparieren, kann.
Es ist die wohl eindrucksvollste Szene einer bemerkenswerten Inszenierung. Bemerkenswert schon deshalb, weil sich Leandra Frey für ihr Regiedebüt mit dem jungen Ensemble des Theater 4 mit „Düval und Charmille“ ein Werk ausgesucht hat, das gut 250 Jahre alt ist und doch noch nie in Deutschland aufgeführt worden ist. Erst 2023 hat sich Anne Lenk am Theater Graz an die Uraufführung gewagt - und direkt den renommierten österreichischen Nestroy-Preis gewonnen.
Geschrieben wurde das bürgerliche Trauerspiel 1778 von Christiane Karoline Schlegel. Es basiert auf dem realen Mord von Carl La Chapelle, Stallmeister des sächsischen Kurfürsten und später ersten Königs von Sachsen, Friedrich August III., an seiner Geliebten, der Kammerfrau Friederica Birnbaum an Weihnachten 1777. Der Hof tat damals alles, um den Vorfall aus der Öffentlichkeit zu halten - und war damit wesentlich erfolgreicher als die Autorin Schlegel, die ihn nicht in Vergessenheit geraten lassen wollte.
Der Stoff über einen historischen Femizid ist erschreckend aktuell
Was also macht Frey aus diesem hochaktuellen Stoff über einen Femizid, wie es ihn heute durchschnittlich fast jeden zweiten Tag in Deutschland gibt? Ein fast fatalistisches Drama, das allen Beteiligten ihren Raum gibt: der Geliebten Amalie von Charmille, der Ehefrau Mariane, dem Sohn Franz, aber auch dem Täter Baron Heinrich Düval.
Das Bühnenbild wird von zwei großen Spiegeln dominiert. Sie zwingen die Protagonisten nicht nur dazu, sich ständig bei ihrem Verhalten beobachten zu müssen, sondern scheinen vor allem auch zu rufen: Das, was wir hier sehen, ist kein Einzelfall, sondern der Spiegel einer Realität, in der wir alle leben, etwas, das jeder sehen müsste, wenn er die Augen öffnet. Zwischen den Spiegeln steht eine stilisierte Reproduktion der Amor-und-Psyche-Skulptur des italienischen Bildhauers Antonio Canova. Damit wird der Bogen geschlagen weit in die Mythen der Antike, wo sich die schöne Königstochter Psyche und der Gott Amor dramatisch ineinander verlieben.

Es geht also um das große Ganze an diesem Abend: Liebe und Leid, Macht und Missbrauch, Gewalt und Gesellschaft. Ein enormer Anspruch für ein Regiedebüt und 90 Minuten Theater - und die gleiche leidenschaftliche Sturm-und-Drang-Mentalität, die sich auch in Schlegels Originaltext wiederfindet. Hier soll eine leidenschaftliche Rebellion gegen gesellschaftliche Normen, gegen die Ohnmacht von Frauenfiguren in Szene gesetzt werden.
Und das gelingt Frey und ihrem streckenweise stark aufspielenden Ensemble (Raphaela Baumgartner, Hanna Erz, Katharina Holzhey, Tim Golling, Titus Weber), eindrucksvoll. Auch wenn - oder eben gerade weil - der Inszenierung nicht alles perfekt aufgeht. Dafür ist das alles zu groß. Nicht alle Konflikte können zu Ende erzählt, nicht alle Gefühle adäquat ausgedrückt, nicht alle Figuren bis in ihre Details entwickelt, nicht jede Szene ausgespielt werden. Manchmal bleibt es fragmentarisch, Motive unklar, Leid unbenannt.
Wer nie gefragt wird, weiß irgendwann nicht mehr, wie er seine Gefühle ausdrücken kann
Dafür gibt es ein Gerüst von Schlüsselszenen und Regieeinfällen, die wie massive Marmorsäulen die Essenz des Geschehens in den Abend rammen. Das Gesangssolo der Geliebten etwa, oder wenn Holzhey als Sohn Franz, der längst zum Spielball zwischen den Eltern geworden ist und für dessen Gefühle sich wirklich so gar niemand interessiert, zu einer Slideshow von verstörenden Bildern und passender Musik in einem expressionistischen Tanz sich über den Bühnenboden windet. Wer nicht gefragt wird, weiß irgendwann selbst nicht mehr, wie er seine Gefühle noch in Worte fassen - und an wen er sie überhaupt richten könnte. Auch die Figur des Düval auf zwei Schauspieler, Golling und Weber, aufzuteilen, ist ein guter Einfall. Zwar ist nicht immer klar, warum eigentlich, zu wenig unterscheidbar sind die beiden Düvals oft, doch wie sie sich mal selbst bemitleiden, mal selbst in ihrem Liebeswahn bestätigen, ist stark.
Überhaupt gelingt Frey mit ihrem Düval ein faszinierend-manipulativer Charakter. Streckenweise darf er so naiv-verliebt rüberkommen, dass man fast geneigt ist, ihm sein Verhalten gegenüber seiner Familie und der Geliebten durchgehen zu lassen. Darüber hinwegzusehen, dass er Amalie lovebombt - also übertrieben mit Zuneigung und Liebesbekundungen überschüttet, um sie zu manipulieren - und auch seine Frau wie seinen Besitz behandelt. Doch spätestens, wenn er mal wieder in sein Inneres blicken lässt, weil er sich fragt, ob Amalie sein Herz denn nun wert sei oder sie doch so verachtenswert sei wie alle anderen, werden seine Beweggründe deutlich. Oder wenn er dem Sohn vorwirft, genauso verweichlicht zu sein wie seine Mutter.
Zu spät erkennt die Geliebte, wie sich das Korsett zuzieht
Diese wiederum ist es, die die ganze Situation am klarsten sieht - sich den Umständen aber lange Zeit beugt. Geradezu lethargisch erträgt Mariane (Hanna Erz) das Verhalten ihres Mannes. Weglaufen ist keine Option, deshalb bleibt ihr nicht mehr, als sich auf dem Laufband auszutoben. Das Erz auf dem engen kurzen Band kurz ins Stolpern gerät, ist wohl nicht beabsichtigt, aber doch so wunderbar passend. Sie verzeiht Amalie, die nicht nur die Geliebte ihres Mannes, sondern auch ihre Freundin ist, den Verrat und rechtfertigt die Situation für sich damit, dass Düval seit der Affäre zumindest weniger launisch ist. Statt Wut empfindet sie Mitleid mit Amalie, versucht sie zu warnen und zu schützen. Doch die will nicht hören. Zu süß klingen die Versprechungen des Barons, zu sehr genießt sie dessen Aufmerksamkeit und Liebesbekundungen, die sich wie ein Korsett immer enger um sie schnüren. Sie sorgen dafür, dass ihr Freiheitsdrang, ihre eigene Persönlichkeit, die Baumgartner immer wieder gekonnt aufblitzen lässt, unter seiner Kontrolle bleiben. Dass ihr die Luft längst abgedrückt ist, merkt sie, als der Baron den Knoten längst zugezogen hat.
Die Inszenierung des Theater 4 spielt das blutige Finale von Schlegels Text nicht aus. Und genau deshalb hallt sie so gnadenlos nach, wie die wummernden Bässe, die das Publikum noch vor wenigen Minuten beschallt haben. Denn das Ende ist keineswegs offen. Die Zuschauer wissen genau, was passieren wird. Sie sehen es nur nicht. Das Blut von Amalie fließt nicht öffentlich, es fließt hinter verschlossenen Türen. Das Große und Ganze – es passt dann doch erstaunlich gut in diesen kleinen, klugen Theaterabend.
„Düval und Charmille“, Inszenierung des Theater 4 an der Neuen Bühne, weitere Termine: 30. und 31. Mai, jeweils 20 Uhr. Karten für 15, ermäßt 8 Euro gibt es beim Kartenservice Fürstenfeld per Mail an vorverkauf@fuerstenfeld.de, telefonisch unter 08141 / 6665 444 oder online unter www.fuerstenfeld.de