Süddeutsche Zeitung

Ortsgedächtnis: SZ-Serie:Ordnende Hand

Stefan Pfannes kümmert sich in Maisach um das lückenhafte Gemeindearchiv. Was er unbedingt aufheben möchte - und was er am liebsten wegwerfen würde.

Von Erich C. Setzwein, Maisach

Es riecht nicht einmal nach Staub. Nicht einmal der Duft von alten Büchern mit brüchigem Lederrücken hängt in der Luft. Seltsam clean muten die Räume im Keller des Hauses an der Kirchenstraße 1 in Maisach an. Stahlregale stehen dort, in jedem liegen graue Kartons, auf denen Schildchen mit Maisacher Gemeindewappen den jeweiligen Inhalt offenbaren. Es sind Akten, die die Verwaltung an das Archiv abgeben muss, weil es gesetzlich so vorgeschrieben ist. Lagerraum für die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte ist vorhanden, weil nicht alles ewig dort unten liegen bleibt, sondern die Papiere nach bestimmten Fristen vernichtet werden dürfen. Manche dieser Papiere aus früheren Zeiten hätte Stefan Pfannes gerne im Archiv. Der 46 Jahre alte Beamte aus Rottbach, im Hauptberuf Geschäftsleiter der Gemeinde Egenhofen, ist der Kreisarchivpfleger für den westlichen Landkreis und betreut in seiner Freizeit als geringfügig Beschäftigter für 450 Euro im Monat das Maisacher Archiv. Doch ein großer Teil historisch wichtiger Akten ist nicht im Archiv enthalten, vor allem jene aus der Zeit vor 1945.

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass da am Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner 1945 in Maisach Akten im großen Stil verbrannt worden wären", sagt Pfannes in seinem Büro im Maisacher Rathaus. Bis zuletzt habe die Verwaltung funktioniert, sei in typisch deutscher Manier alles dreifach ausgefertigt worden. "Da hat sicher der Ortsgruppenleiter sein Zeug hinausgeworfen und ein Feuer gemacht", erklärt sich Pfannes die Situation beim Zusammenbruch des NS-Regimes. Aber die Akten aus der Nazizeit seien möglicherweise erst bei einer Renovierung vernichtet worden. "Aus Unkenntnis, dass man das oide Glump noch brauchen könnte."

Zu dem vielen alten Zeug im Gemeindearchiv gehören auch so schöne Stücke wie die Kette des Bürgermeisters von Germerswang aus dem 19. Jahrhundert. Auf einer Seite der Medaille am blauen Ordensband prangt das Konterfei des Märchenkönigs Ludwig II., die Rückseite trägt lediglich die Inschrift Germerswang. Gemeindliche Akten aus Maisach reichen bis 1830 zurück, auch der Erste Weltkrieg ist dokumentiert und auch in späteren Chroniken zusammengefasst. Auch wenn die Nazizeit aktenmäßig nicht so gut dokumentiert ist, wie sich das an der Zeitgeschichte Interessierte wünschen würden, so gibt es doch Belege aus dieser Zeit und über sie, die Pfannes im Archiv hat. So etwa "eine geschönte und verklärte Darstellung" von Josef Keller aus dem Jahr 1955. Dort findet sich auch ein Hinweis auf den sogenannten Scheinflughafen von Rottbach, der angelegt wurde, um die Alliierten von dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck abzulenken. "Geholfen hat es nicht", sagt Pfannes, die Bombenabwürfe trafen Fürstenfeldbruck und nicht Rottbach.

Ein Zufallsfund ist auch ein hölzerner Plakatständer gewesen, auf dem ein Plakat der nationalsozialistischen Einheitspartei fast vollständig erhalten ist. Die Landwirte werden mit einem Vergleich der Jahre 1932 und 1938 dazu aufgerufen, ihren "Dank" für Adolf Hitler auszudrücken, indem sie am 12. April 1938 zur Wahl gehen sollten. Es war die letzte Wahl zum deutschen Reichstag, zur Abstimmung stand lediglich eine Partei. Gleichzeitig wurde über den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich eine Volksabstimmung abgehalten. Nachträglich, nachdem die Wehrmacht ins Nachbarland einmarschiert war. Eine Annektierung, wie sie auch jetzt Russland in der Ukraine zeigt.

Kistenweise Verordnungen aus dem Königreich

Zu den vielen eingelagerten Dokumenten gehören auch kistenweise Bände mit königlich bayerischen Verordnungen und Gesetzessammlungen. "Die finden sich in jedem Gemeindearchiv im Landkreis", beklagt Pfannes. Die Wälzer waren seinerzeit teuer und wurden deshalb aufbewahrt, dafür flogen Akten raus. Pfannes würde die Gesetzbücher am liebsten auch entfernen. Aber es ist noch Platz im Keller, sie dürfen bleiben. Ohnehin hat Pfannes die Bestände lieber gut geordnet.

Seine Leidenschaft für Dinge, die aufbewahrt werden sollten, hat sich bei ihm als Schüler entwickelt. Er erinnert sich an die Schulbusfahrerin, die ihm eine Chronik von 1904 in die Hand drückte, und er sich erst einmal die Frakturdruckschrift beibringen musste, um sie lesen zu können. Pfarrer Hans-Werner Matthes lud den 17-Jährigen ein, sich das Pfarrarchiv anzusehen, und Stefan Pfannes machte in dem Durcheinander Ordnung. Seither tut er das, was die Kompetenz der Archivare ausmacht: sortieren, einteilen, bewerten. Und dabei steht immer die Frage im Raum: Kann das weg oder darf es bleiben?

Professioneller Archivar in Gemeindediensten wurde Pfannes, der von der Versicherungswirtschaft in die Verwaltung wechselte, im Jahr 2000. Damals war die Gemeinde Gröbenzell in einer Vorreiterrolle, als sie ihr eigenes Archiv ordnete und der damalige Bürgermeister Bernd Rieder eine Zweckvereinbarung mit Puchheim, Maisach und Eichenau schloss. Stefan Pfannes kam, "und ich räumte auf". Als er dann 2008 für den Gemeinderat Maisach kandidierte, gewählt wurde und in der CSU-Fraktion einen Platz bekam, war es bald aus mit der Tätigkeit in Gröbenzell. Die Egenhofener wussten seine Kenntnisse zu schätzen, und so wechselte Pfannes 2013 das Rathaus. Als Verwaltungsfachwirt führt er die Geschäfte in der Verwaltung, und als Standesbeamter weiß er, dass das Personenstandswesen mit das Wichtigste ist, das archiviert werden muss.

Wer einen Vorfahren sucht, muss bezahlen

Allein die Ermittlung etwaiger Erben produziert Anfragen im Rathaus. Denn wer von wem abstammt und welche Familien zusammenhängen, ist zwar vor allem für die Angehörigen interessant, aber auch in geschichtlicher Betrachtung. Pfannes arbeitet dabei mit dem Arbeitskreis Geschichte zusammen, und so bleiben die Akten und Dokumente nicht unbenutzt im Keller, sondern werden ausgewertet und die Ergebnisse publiziert. Die Maisaha-Hefte sind das Organ, in dem sich die Erkenntnisse wiederfinden. Das Archiv trägt auch ein wenig zum Haushalt der Gemeinde bei, denn es ist mit einer Benutzungs- und Gebührensatzung versehen. Gratis sind diese Auskünfte nicht.

Ein wahrer Schatz innerhalb der an gemeinderelevanten Dokumenten reichen Aufbewahrungsräume ist die Sammlung der Lehrerin Gertraud Kölbl. Sie war in Maisach bis in die Achtzigerjahre tätig und zuletzt Konrektorin der Grundschule. Von ihr stammt unter anderem eine Handreichung für Lehrer für den Heimatkundeunterricht. In weiteren Büchern ist die Geschichte von Maisach nachgezeichnet, nur die Nazizeit, in der die 1919 im Landkreis Landsberg geborene Kölbl ihre Laufbahn als Lehrerin begann, ließ sie aus. Die Gemeinde Maisach machte sie zur Ehrenbürgerin, eine Straße in einem Neubaugebiet wurde nach benannt. Gertraud Kölbl starb 2006 und hinterließ dem Gemeindearchiv, was sie an Wichtigem zusammengetragen hatte.

Hitler bedankt sich

Ziemlich neu im Besitz der Gemeinde, aber eigentlich schon ziemlich alt ist ein großer Schrank mit dem alten Uhrwerk des Kirchturms von Überacker. Bis in die Sechzigerjahre zeigte die Turmuhr die Zeit mit diesem in Andechs gefertigten Werk an, wurden dann ausgetauscht und im alten Schulhaus von Überacker aufbewahrt. Ob das Werk je wieder laufen wird, ist ebenso ungewiss wie die Nutzung von alten Schulbänken aus Überacker. Während Adolf Hitlers Unterschrift unter einem Dankschreiben für die Ehrenbürgerwürde, die die Gemeinde Maisach andiente, auch einen Aufbewahrungswert hat, ist die älteste Urkunde in der Gemeinde von 1690 das Wertvollste unter den Archivalien. Der Inhalt ist freilich profan, geht es doch darin um ein Grundstücksgeschäft in Rottbach.

Weitaus aufschlussreicher ist die der Gemeinde überlassene Familienchronik Schamberger, die seit 1829 in Maisach einen Kramerladen hatte und über 170 Jahre hinweg die Chronik führte. Und auch zum derzeit aktuellen Thema Inflation findet sich in den Beständen der Gemeinde eine Chronik mit eindeutigen Belegen aus den Zwanzigerjahren: Seitenweise sind darin Banknoten mit immer höheren Werten eingeklebt, um der Nachwelt zu zeigen, dass auch ganz normale Maisacher von einem Tag auf den anderen zu Millionären werden konnten. Reich wurde damit keiner, weil das Geld schon beim Ausgeben quasi wertlos war.

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