Esther Junghanns hat ihren Traummann gefunden. Es fehlt nur noch ein Kind - und ihr Glück wäre perfekt. "Ich liebe Kinder über alles. Ich find's toll, wie sie sich entwickeln, von der allerersten Minute der Zeugung bis zum erwachsenen Menschen. Ein Kind zu begleiten in seinem Leben und seiner Elternrolle gerecht zu werden - für mich gibt's nichts Schöneres", sagt sie mit strahlenden Augen. Doch Esther Junghanns sitzt seit ihrer Geburt im Rollstuhl. Im Alltag ist sie auf Hilfe angewiesen. Das wäre sie auch als Mutter.
Die Münchnerin würde ihr Kind nie alleine baden oder anziehen können. Sollte es hinfallen, könnte sie es nicht aufheben und trösten. Stattdessen müsste sie zuschauen, wie ihre Assistentin ihre Mutterrolle übernimmt. "Und dann, wenn das Kind sich beruhigt hat, dann kann es zu mir kommen. Ich glaube nicht, dass ich dann nicht so egoistisch sein darf zu sagen, ich will jetzt die Erste sein, die das Kind tröstet", sagt sie bedacht. Ihr ist klar, dass sie viele Aufgaben abgeben muss.
"Ein Kind würde unser Leben, unsere Partnerschaft einfach vollkommen machen", findet auch Esthers Mann Robert. Er ist nur leicht behindert. Aufgrund einer Zerebralparese kann er die linke Körperhälfte nur eingeschränkt bewegen. Sollte Esther schwanger werde, will er seine Frau unterstützen: "Ich sehe das Ritual des Zubettbringens durchaus bei uns. Wenn Esther mir sagt, dass unser Kind ins Bett muss, dann würde ich es fertig machen und anschließen auf ihren Schoß legen, damit es noch ein bisschen mit der Mama kuscheln kann."
Wie ein Alltag mit Kind aussehen würde, haben sie sich immer wieder ausgemalt. Robert spricht langsam, macht bewusst Pausen zwischen den Worten. "Es tut so weh", unterbricht ihn Esther schluchzend. Tränen stehen ihr in den Augen. Seit sechs Jahren versucht das Paar, ein Kind zu bekommen. Mittlerweile haben sie den Traum vom eigenen Kind fast aufgegeben.
Zärtlich streichelt Robert seiner Frau über den Oberschenkel, versucht sie zu beruhigen. In der eigenen Familie war ihr Kinderwunsch lange ein Tabuthema. Sie könne sich ja nicht selbst kümmern. Auch Esther Junghanns' Mutter hatte Zweifel. Sie glaubte, Esther würde früher oder später bewusst, viele Aufgaben nicht selbst übernehmen zu können und daher enttäuscht sein. Trotzdem ist Esther sich sicher, ein Kind würde ihr Leben bereichern. Sie weiß von ihrem Handicap und den Konsequenzen. "Ich glaube, es muss einem bewusst sein, dass man vieles abgeben muss." Aber darauf ist sie vorbereitet. Sie weiß, dass die Mutterrolle ihr einiges mehr abverlangen würde, als anderen Müttern. "Ich glaube, man muss mit sich im Reinen sein. Damit man das Kind gut erziehen und versorgen kann. Noch viel mehr, als eine nichtbehinderte Frau." Die 41-Jährige wirkt reflektiert und klar. "Ich weiß, dass ich nicht alles kann. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung sehr sehr wichtig." Wenn sie schon das Kind nie allein baden oder anziehen kann, will sie immer in dessen Nähe sein, um eine Bindung aufzubauen.
Schon früh wünschte sich Esther ein Kind. Damals war sie 23 Jahre alt. "Ich hatte nur nicht den richtigen Partner", erinnert sie sich. Dass sie mit dem Kind nicht alleine wäre, sondern mit Unterstützung rechnen kann, wusste sie damals noch nicht. Vor zehn Jahren habe eine beeinträchtigte Frau noch nicht so viel über das Kinderkriegen nachgedacht. Heute sei das anders, auch wegen neuer Möglichkeiten. Eine ist die sogenannte Elternassistenz, für die der Staat aufkommt. "Allerdings mit sehr viel Zähneknirschen", wendet Esther ein. Ob das nicht die Großeltern machen könnten, heiße es oft. "Das finde ich nicht gut, wenn die Großeltern das übernehmen. Die sollen ja Großeltern bleiben." Außerdem müssen Betroffene diese Hilfe einfordern. Ein steiniger Weg, auf dem sie wiederum Unterstützung bräuchte.
"Jeder beeinträchtigte Mensch hat ein Recht auf Elternassistenz", erklärt Sylvia Pohl. Sie ist Sozialpädagogin bei Donum Vitae, einer Stelle für Schwangerenberatung in Fürstenfeldbruck. Pohl trägt schulterlange blonde Haare, eine violette Bluse und einen knielangen Rock. Mit überkreuzten Beinen sitzt sie auf einem hellen Rattansessel in ihrem Beratungszimmer. Die 58-Jährige spricht mit ruhiger Stimme. "Diese Menschen haben laut UN-Behindertenrechtskonvention ein Recht auf eine Familie, darauf, Kinder zu kriegen", erklärt Pohl, die bewusst von Beeinträchtigung und nicht von Behinderung spricht. In Artikel 23 heiße es, dass beeinträchtige Menschen "in allen Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft" gleichberechtigt seien. "Aber sie brauchen Unterstützung, das ist ganz wichtig."
Bislang fehlt es in Bayern freilich an geeigneter Hilfe. Zum Beispiel gibt es keine stationären Mutter-Kind-Einrichtungen, in denen behinderte Frauen gemeinsam mit ihren Kindern leben können und Unterstützung erfahren. "Das ist ein großes Manko in Bayern, da sind andere Bundesländer schon weiter", stellt Pohl fest. Donum Vitae ist eine von acht Beratungsstellen, die an einem Modellprojekt teilnahm, bei dem Pohl Menschen mit Behinderung zu Partnerschaft, Liebe, Sexualität und Schwangerschaft beriet. Donum Vitae hat sich einem christlichen Menschenbild verschrieben, nach dem alle Menschen gleich sind. "Da gibt es keine Wertung. Wir sollten alle Menschen annehmen, so wie sie sind. Denn auch behindertes Leben ist lebenswert", findet Pohl.
"Ihr Wunsch ist es, ganz normal zu sein. Ganz normal zu leben, eine ganz normale Partnerschaft und eine ganz normale Familie zu haben. Dazu gehört auch ein Kind." Behinderte würden gesellschaftlich ganz unten stehen und kaum eine Lobby haben. "Deshalb müssen sich andere für ihre Rechte stark machen." "Es gibt viele Ängste", erzählt Pohl. "Oft fragen sich Frauen, ob sie das Kind wohl gut versorgen können oder ob sie fürchten müssen, dass das Jugendamt ihnen das Kind wegnimmt." Ist das Kindeswohl gefährdet, müsste das Jugendamt eingreifen.
Seit 20 Jahren berät die gebürtige Maisacherin Schwangere - egal ob Asylbewerberin oder Top-Managerin. Die Beratung beeinträchtigter Frauen stellt sie vor neue Herausforderungen: "Sie verlangt mehr Geschick, mehr Empathie als sonst." Zuweilen stößt sie auch an Grenzen: "Manchmal können wir die Menschen durch Sprache nicht erreichen." Dann sei es wichtig, die Inhalte möglichst einfach zu vermitteln. Pohl schiebt ein paar Broschüren in "leichter Sprache" auf den Tisch. Darin: Bilder, die an den Sexualkundeunterricht aus der Grundschule erinnern. Ehrliche, ungenierte Zeichnungen von Geschlechtsverkehr, Genitalien und Spiralen. "Es ist wichtig, viel mit Bildern zu arbeiten, es zu konkretisieren." Manche Behinderte sind nicht aufgeklärt oder wissen nicht, was Geschlechtsverkehr bedeutet. Deshalb liegt es an Beraterinnen wie Pohl, Behinderten aufzuzeigen, welche Möglichkeiten der Verhütung bestehen, oder zu zeigen, was Selbstbefriedigung bedeutet. Dabei komme es auch auf den Grad der Behinderung an. "Einige sind ganz fit. Die haben alle einen eigenen Computer und schauen sich auch Pornos an."
In der Familie, sagt Esther Junghanns, sei man immer offen mit dem Thema Sexualität umgegangen. Aber das sei nicht selbstverständlich, erklärt Pohl. Viele Eltern würden die Sexualität ihres behinderten Kindes leugnen, für sie blieben sie immer Kind. "Diese Menschen haben eine ganz normale sexuelle Entwicklung wie andere auch." Das gelte bei jeder Beeinträchtigung - egal ob körperlich oder kognitiv. Die Entwicklung eines behinderten Kindes hängt stark von den Eltern ab. "Meine Mama sagt immer, ich sei rebellierend gewesen. Ich wollte immer alles so machen, wie andere eben auch", erinnert sich Esther. Dieser Ehrgeiz hilft ihr nun. Das Vorurteil, eine behinderte Frau könne keine Mutter sein, lässt sie sich nicht gefallen: "Man darf nicht vergessen, dass es auch nichtbehinderte Menschen gibt, die total überfordert sind mit ihren Kindern. "
Schon früh war sie selbständig, engagierte sich in Jugendgruppen, gestaltete mit anderen Kindern Messen. "Ich glaube, ich würde mit Kind noch mehr Stärke aufbringen", sagt sie selbstbewusst und beteuert, eine geborene Kämpferin zu sein.
Silvia Pohl ist Mutter. Deshalb versteht sie, dass man sich ein Kind wünscht. Trotzdem tut sie sich mit der Frage schwer: "Ich kann das aus Sicht der betroffenen Frauen verstehen." Man müsse aber auch die andere Seite sehen, nämlich die des Kindes. Ob es gut versorgt ist, überprüft das Jugendamt. Noch bevor sich die Frau für ein Kind entscheide, sei es wichtig, gemeinsam mit ihr zu überlegen, was ein Baby alles braucht. Ihr klar zu machen, dass es rund um die Uhr betreut werden muss und auch mal eine Nacht durchschreit. "Oft sind ja die Normalen schon überfordert. Ein Baby ist nicht nur süß, es hat eben auch viele Bedürfnisse", sagt Pohl, steht auf und beugt sich über eine Babytrage. "Das ist Paul", sagt sie und hält jetzt ein "Baby" im Arm, das eigentlich ein Baby-Simulator ist, der an Paare mit Kinderwunsch verliehen wird. Paul ist programmiert. Er schreit, schläft und bringt künftige Eltern an ihre Grenzen, eben wie ein echtes Baby. "Wenn die Frau nach all dem trotzdem das Kind will, wer will ihr das verbieten?", fragt Pohl.
Dann gibt es ein Leben zu Dritt. Für Esther Junghanns aber wäre es ein Leben zu Viert. "Ich hab den besten Ehemann der Welt", erzählt die 41-Jährige. Erst vier Monate liegt ihre Hochzeit zurück, seit sechs Jahren sind die beiden ein Paar. Kennen gelernt haben sie sich über das Internet. So sei es leichter, findet Esther: "Da waren ja erst mal nur Robert und ich, die sich da unterhalten haben. Das waren wir als Menschen, nicht unsere Einschränkung." Trotzdem war es für Robert anfangs schwer. Er musste seine Beziehung nicht nur gegenüber seinen Eltern verteidigen, sondern sich selbst erst einmal auf die neue Situation einlassen. "Mich gibt es nur im Doppelpack, zusammen mit meiner Assistentin", hatte Esther von Anfang an zu verstehen gegeben. So kam es, dass sie fortan zu dritt in der Dreizimmerwohnung lebten. "Das war mir wichtig, dass er das weiß. Viele Beziehungen kamen vorher deshalb nämlich gar nicht erst zustande", erklärt Esther. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden, wird Esther betreut - zurzeit ist das Nicki, die sogar ihr eigenes Zimmer bei den Junghanns hat. Sie wäscht Esther, hebt sie aus dem Rollstuhl oder hilft ihr beim Anziehen. "Der Robert übernimmt dann auch das eine oder andere, dafür übernehme ich dann einige Sachen von Robert mit. Es ist dann so ein Miteinander." Anfangs war das nicht so einfach. "Im ersten Moment hab ich innerlich erst mal geschluckt", gesteht Robert. Doch dann habe er die Situation so angenommen. "Und man schafft sich schon seine Freiräume", ergänzt Esther.
Für einen beeinträchtigten Menschen ist es nicht leicht, einen Partner zu finden, das weiß auch Sylvia Pohl. Oft sind sie nicht mobil, es fehlt an Begegnungsorten. Viele junge Frauen würden sich einen Partner wünschen, am liebsten einen Nichtbehinderten. "Man will normal sein, dazugehören." Aber das scheitere allein schon beim Kennenlernen. Oft seien die Gruppen unter sich, der Kontakt nach außen fehle. In der Regel bahnen sich die Partnerschaften in Behindertenwerkstätten oder Schulen an.
Robert schiebt Esther einen weißen Porzellanbecher zu. Ihren Blick deutet er richtig. Während Esther jetzt ein paar Schluck Milchkaffee durch einen Strohhalm trinkt, erzählt Robert weiter. Für ihn gab es keine Berührungsangst, weil er selbst leicht behindert ist - und weil er früher schon behinderten Menschen half. "Esther sagt ganz klar, wie sie etwas haben will und wie etwas gemacht werden soll." Früher hatte Esther ausschließlich Partner, die auch im Rollstuhl saßen. Einen Fußgänger wollte sie nie: "Was soll der denn mit mir, mit einer Frau im Rolli, der muss auf so vieles verzichten", dachte sie damals.
Ein Kletterurlaub wäre nie drin gewesen. Die beiden machten 2015 Urlaub in der Türkei - ganz ohne Klettern. "Robert, hol doch mal das Buch", bittet sie ihren Mann, und Robert kramt ein Fotoalbum hervor. Braun gebrannt und glücklich sehen sie auf den Bildern aus. "Jetzt hab ich einen relativ nichtbehinderten Mann und kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen", lacht Esther. Viele Dinge sind dadurch einfacher geworden, zum Beispiel abends zusammen zum Essen auszugehen. Robert fällt es schwer, Briefe zu schreiben oder Antragsformulare auszufüllen. Das übernimmt nun Esther. Für sie ist es wichtig, in der Beziehung gemeinsame Lösungen zu finden.
Auch in Sachen Zweisamkeit sind die beiden ein Team. "Wir finden schon unsere Möglichkeiten", sagt Robert. "Man wird eben erfinderisch." Zum Beispiel kann Esther nur schwer ihre Beine spreizen, ohne dass es schmerzt. Dann legt sie eben ein paar Kissen unter sich. "Ich kann jetzt keine akrobatischen Sexualspielchen machen", sagt Esther und lacht. Aber sonst sei das Handicap beim Sex kein Problem. "Mit dem richtigen Partner und der richtigen Einstellung geht's schon."
Die beiden reden offen darüber, obwohl sie wissen: Sexualität und Behinderung, das ist noch immer ein Tabuthema. "Oft verhindern äußere Bedingungen, seine Sexualität ausleben zu können", berichtet Esther. Im Pflegebereich gibt es zum Beispiel nur Betten mit den Maßen 0,9 mal 2,10 statt 1,40 Metern. Alles, was nicht unter "Standard" laufe, müsse man sich erst einmal erkämpfen. Oft sei der Zugang zum Körper ein anderer. Mit der Frauengruppe, die sie betreut hat, habe sie viele Körperübungen gemacht, damit die Frauen lernten, sich zu spüren. Es falle ihnen schwer, ihren Körper anzunehmen, weil sie nicht den Schönheitsidealen entsprechen und sich als anders wahrnehmen. Oft hätten sie Angst vor Zurückweisung, blieben lieber allein, statt einen Korb zu bekommen.
"Die Menschen haben heute ganz viele Bilder im Kopf, wie Sexualität zu sein hat", findet Pohl. Allzeit bereit und möglichst viele verschiedene Stellungen. Oft habe es dann eher einen sportlichen Charakter, etwas Technisches. "Dabei hat Sex mit den eigenen Gefühlen zu tun. Das Paar muss sich erst mal erforschen und herausfinden, was die eigenen Bedürfnisse sind und diese dann dem Partner mitteilen." Sex - das ist eben nichts Standardisiertes, sondern etwas, das sich auch für Behinderte im Miteinander entwickelt.