SZ-Serie: "Inklusion":Leben in zwei Welten

Gnam

Marlene Gnam und ihr Sohn Oliver unterhalten sich mit Gebärden. Bei der Vereinigung der Eltern Hörgeschädigter in Bayern ist sie heute Vorsitzende.

(Foto: Günther Reger)

Oliver Gnam ist von Geburt an gehörlos. Er arbeitet als Fachinformatiker und fährt Auto. Doch um sich mit jemandem gut verständigen zu können, müsste der Gesprächspartner die Gebärdensprache beherrschen. Oft scheitert Gnam deshalb an Kommunikationsbarrieren

Von Valentina Finger, Fürstenfeldbruck

Wenn Oliver Gnam die flache Hand auf den Boden legt, macht Waldo Platz. Hält er sie ihm entgegen, gibt er die Pfote. Der dreijährige Mischlingshund freut sich sichtlich, dass sein Herrchen wieder im Haus ist. Denn seit Oliver Gnam vor ungefähr einem Jahr von Fürstenfeldbruck nach München gezogen ist, sehen er und der kleine Hund sich nicht mehr so oft wie früher. Gemeinsam haben sie schon Videos fürs Internet gedreht. Wenn Waldo für einen Trick gelobt wird, bellt er vor Freude. Oliver Gnam kann sehen, dass sein Hund sich freut. Hören kann er es nicht.

Der 32-Jährige ist gehörlos. Seit er geboren wurde und ohne medizinisch nachweisbaren Grund. In seiner Familie ist er der Erste, eine der Taubheit verursachenden Krankheiten wie Röteln hatte er nicht. Als er ein Jahr alt war, wurden viele Tests gemacht. Ohne Ergebnis. Zehn Jahre später haben die Ärzte sich bereit erklärt, dem jungen Patienten ein Cochlea-Implantat einzusetzen. Doch der wollte nicht operiert werden.

"Für mich ist es kein Problem, gehörlos zu sein. Aber ich wollte kein Ersatzteil im Ohr haben", sagt Oliver Gnam, der vor seinem Auszug den Großteil seines Lebens in Fürstenfeldbruck verbracht hat.

Statt mit Lauten spricht er mit Gesten. Auch der quirlige Waldo hört auf Gebärden-Kommandos wie "Such' Ball". "Er hat gelernt, mit dem Hund auf seine Art zu kommunizieren", sagt Olivers Mutter, Marlene Gnam. Als sich damals herausstellte, dass ihr Sohn nicht hören kann, stand sie vor völligem Neuland: "Man bekommt keine Gebrauchsanweisung. Bis man herausfindet, wie man mit der Situation umgeht, ist es ein langer Prozess." Von da an hat sie viel recherchiert. Um sich zu erkundigen, welche beruflichen Perspektiven es für Gehörlose gibt, ist sie einmal zu einem Treffen der Vereinigung der Eltern Hörgeschädigter in Bayern gegangen. Mittlerweile ist Marlene Gnam schon lange Vorsitzende des Vereins. Im nächsten Jahr möchte sie ihren Posten abgeben. Denn ihr Sohn, der als Fachinformatiker arbeitet, ist kein Kind mehr.

Deswegen ist Oliver Gnam auch ausgezogen. Nun wohnt er in einer Wohnung mit zwei ebenfalls gehörlosen Freunden, die er noch aus der Schule kennt. Zur Einweihungsparty hat er seine Nachbarn extra informiert, dass bei ihnen gefeiert wird. Beschwerden gab es bei einem Fest ohne Musik und mit 20 lautlos kommunizierenden Gästen erwartungsgemäß keine.

Bevor er mit sieben Jahren eingeschult wurde, lebte die Familie in Augsburg. Dort hat besuchte Gnam, der heute Jugendliche mit demselben Handicap betreut, einen Kindergarten für Hörgeschädigte. Da die zuständige Schule in Dillingen ein Internat gewesen wäre, fiel die Wahl stattdessen auf das Angebot in München. Später ging es dort für ihn weiter auf die Samuel-Heinicke-Real- sowie -Fachoberschule, bundesweit die einzigen Bildungsstätten dieser Art. Die gute S-Bahn-Anbindung von Fürstenfeldbruck war damals ausschlaggebend für den Umzug der Familie.

"Man konnte hier toll mit Freunden draußen spielen und sich frei bewegen. Aber spezielle Angebote für Gehörlose hat es kaum gegeben", erinnert sich Oliver Gnam. Um im Kino einen Film mit Untertiteln zu sehen, musste er nach München fahren. Zwar habe er in Fürstenfeldbruck ein Praktikum machen können und sich auch mal beim Bogenschießen versucht. Doch all das seien individuell auf ihn zugeschnittene Ausnahmen gewesen. "Es gibt wenige geeignete Freizeitaktivitäten, weil es hier wenige Gehörlose gibt", sagt Marlene Gnam. Auch in Gehörlosen-Verbänden, wie der Deutschen Gehörlosen-Jugend, wo Oliver Gnam Mitglied ist, treffe er selten auf Leute aus dem Landkreis.

Allerdings hat er in Fürstenfeldbruck Autofahren gelernt. Gleich die erste Fahrschule, die sie angesprochen haben, habe zugesagt, den Unterricht auf seine Bedürfnisse zuzuschneiden. Vor den Theoriestunden hat er das jeweilige Kapitel bekommen, um sich einzulesen. Im Auto hat er mit dem Fahrlehrer entsprechende Gesten für links, rechts, bremsen oder Gas geben vereinbart. Die Prüfung hat Oliver Gnam im ersten Anlauf fast fehlerfrei gemeistert. Mittlerweile fährt er seit 14 Jahren unfallfrei. "Wenn Hörende das Radio laut aufdrehen, hören sie beim Fahren genauso wenig", sagt er.

Einen ähnlichen Vergleich bringt er zum Thema Reisen: "Wenn man in China kein Chinesisch und der Chinese kein Englisch sprechen kann, muss man sich ja auch anderweitig verständigen." In China war er schon, außerdem in Kanada und auf Fuerteventura. Auf seinem Handy zeigt er ein Foto, das ihn dort beim Surfen zeigt. Weil die Surflehrer keine Gebärdensprache konnten, haben er und seine Freunde sich die richtige Technik irgendwie selbst hergeleitet. Auch sonst macht er viel Sport. Früher hat er in dem Gehörlosen-Sportverein Bergfreunde Basketball gespielt. Jetzt geht er ins Fitnessstudio, zum Laufen, Skifahren oder Schwimmen. Gerade hat er seine Ausbildung zum Übungsleiter für Breitensport bestanden. Theoretisch dürfte er damit auch mit Nicht-Hörbehinderten arbeiten: "Ich möchte selber mehr Angebote für hörgeschädigte Kinder schaffen. Auch gerne mit Hörenden zusammen."

In seinem Freundeskreis seien allerdings kaum Hörende. "Als Kind spielt man mehr und redet weniger. Je älter man wird, desto anstrengender wird es für beide Seiten", sagt er. Früher habe er neben seiner Familie noch oft Nachbarn oder Freunde seiner jüngeren Schwester Patricia um sich gehabt. So wie für Oliver sei es auch für Patricia, die problemlos hört, nicht immer leicht gewesen, sagt Marlene Gnam: "Die Behandlung war auf jeden Fall nicht gleich. Er hat viel Unterstützung gebraucht und sie war natürlich sauer, wenn ich zum Beispiel Schulaufführungen verpasst habe, weil ich mit ihrem Bruder auf Termine musste." Doch aus der normalen geschwisterlichen Rivalität ist ein gutes Verhältnis geworden: Als Patricia ihre Diplomarbeit schrieb, unterstützte Oliver sie mit seinen Computerkenntnissen. Als er sich um Jobs beworben hat, hat sie seine Texte auf Grammatik überprüft.

Dass nicht viele Hörende Gebärdensprache können, findet Gnam traurig. Gerne würde er mehr am allgemeinen Gesellschaftsleben teilnehmen, aber die Kommunikationsbarriere sei oft zu groß. "Mit einem Dolmetscher gibt es nie Probleme. Aber sobald der weg ist, ist das Gespräch schnell zu Ende", sagt er. Deswegen spreche man auch sozusagen von Parallelgesellschaften: von der hörenden und der Gehörlosenwelt. Viele Menschen in Oliver Gnams Umfeld versuchen, diese Grenze zu überschreiten: Seine Arbeitskollegen und auch der Verlobte seiner Schwester sind dabei, seine Sprache zu lernen. Als seine Mutter über Patricias Verlobung spricht, erzählt er, dass er kürzlich ein bisschen Tanzunterricht hatte. Die Musik kann Oliver Gnam nicht hören. Doch wenn seine Schwester heiratet, wird auch er auf ihrer Hochzeit tanzen.

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