SZ-Serie: "Inklusion":Immer zu zweit

Gebärdensprachdolmetscher begleiten Kinder zum Unterricht in der Regelschule

Von Valentina Finger, Grafrath

Bei 14 Personen in einem Haus, kann es laut werden. Nicht jedoch in der Wohngemeinschaft um Christian Pflugfelder - so lange sich jeder an die Regeln hält: Zumindest die Kommunikation bei Tisch, im Idealfall aber jede Unterhaltung, soll in Gebärdensprache sein. "Manchmal muss man das nachdrücklich einfordern, weil sich nicht jeder daran hält", sagt Pflugfelder, der seit 1992 als Gebärdensprachdolmetscher arbeitet. Mit seiner Frau, seinen fünf Kindern und drei weiteren Parteien lebt er auf zwei Stockwerken in Grafrath. Seine "kleine Inklusionskommune", nennt er es. Einige Bewohner können hören. Die anderen, so auch seine Frau und zwei seiner Kinder, nicht.

SZ-Serie: "Inklusion": Damit erklärt Pflugfelder seinen Beruf "Dolmetscher".

Damit erklärt Pflugfelder seinen Beruf "Dolmetscher".

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Zuvor hat die Familie in Kassel gewohnt. Weil es zu wenige in seinem Beruf gibt, musste er viel herumfahren. Zu viel für einen Familienvater. "Gerade die ländlichen Gebiete sind schlecht versorgt. Auch in Bayern werden Aufträge in München bevorzugt, weil dort die meisten Dolmetscher leben", sagt Pflugfelder. Vor sechs Jahren ist die Familie nach Grafrath gezogen. Zunächst mit einem befreundeten Ehepaar. Kürzlich ist eine Gebärdensprachdolmetscherin mit ihrem gehörlosen Mann hinzukommen. Zudem lebt die junge Frau im Haus, die für Pflugfelders siebenjährige Tochter Miriam in der Schule dolmetscht. Miriam und ihr zwölfjähriger Bruder Lucas hören im Gegensatz zu ihren drei Geschwistern nichts. Doch sie kennen den Schullalltag der Hörenden.

SZ-Serie: "Inklusion": Das Zeichen für "wir" wird in der Gebärdensprache so gebildet.

Das Zeichen für "wir" wird in der Gebärdensprache so gebildet.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Die beiden sind resthörig. Das heißt: Manches können sie durch Hörgeräte mitbekommen. In dem Stimmengewirr, das meist an Schulen herrscht, funktioniert das jedoch schlecht. Die ersten beiden Schuljahre hat Lucas am Münchner Förderzentrum verbracht. Als sein Bruder in Grafrath eingeschult wurde, wollte er auch dorthin. Nachdem er die dritte Klasse alleine gemeistert hatte, bemühten sich die Eltern um einen Dolmetscher. Zunächst ohne Erfolg. "Lucas war der erste, der in Grafrath als Gebärdensprachnutzer an die Schule kam. Einige Lehrer konnten sich nicht vorstellen, dass jemand neben ihnen vor der Klasse steht", sagt sein Vater.

SZ-Serie: "Inklusion": Gebärdensprachdolmetscher Christian Plugfelder zeigt, wie das Zeichen für "schreiben" aussieht.

Gebärdensprachdolmetscher Christian Plugfelder zeigt, wie das Zeichen für "schreiben" aussieht.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Trotzdem hat Lucas eine gymnasiale Empfehlung bekommen. Für die Eltern kam ausschließlich eine Schule in Frage, die einen Dolmetscher akzeptiert. Am Viscardi-Gymnasium in Fürstenfeldbruck war das kein Problem. Der Regelstundensatz eines Gebärdensprachdolmetschers liegt bei 75 Euro. Die Kosten dafür werden in der Regel durch öffentliche Gelder abgedeckt. Obwohl Lucas sich am Viscardi wohlgefühlt hat, ist er kürzlich nach eineinhalb Jahren an die Realschule für Hörgeschädigte in München gewechselt. Die Doppelbelastung aus seinem Handicap und dem kompakten G 8-Stoff sei zu groß gewesen. "Im Endeffekt fanden für Lucas nicht nur Englisch und Latein, sondern alle Unterrichtsstunden in einer Fremdsprache statt", erklärt Pflugfelder, der beruflich mitunter im Arbeitsalltag, bei Gericht oder in Medien wie Fernsehen und Online zum Einsatz kommt.

Er selbst ist als Kind gehörloser Eltern bei Tübingen aufgewachsen. Da Mutter und Vater meist lautsprachlich kommunizierten, hat er deren fehlerhafte Artikulation übernommen. Im Kindergarten vermutete man einen Sprachfehler und empfahl Logopädie. "Meine Eltern glaubten, dass ich das selbst ausgleichen kann. Nach einem halben Jahr im Kindergarten habe ich einwandfrei schwäbisch geschätzt", erzählt der 42-Jährige.

Davon ist heute nicht viel übrig. Vielleicht auch deshalb, weil Pflugfelder mehrere Jahre in Potsdam gewohnt hat. Dort hat er bei einem Projekt für gehörlose Studierende auch seine Frau getroffen. Gebärdensprache hat er von seinem Großvater und in der Interaktion mit anderen Kindern gelernt. Seine Tochter, die im September in die zweite Klasse kommt, war bereits im Schöngeisinger Waldkindergarten ein Inklusionskind. Was für Lucas noch nicht geklappt hat, ist bei Miriam nun möglich: Die Dolmetscherin, die sie schon dort begleitet hat, übersetzt für das Mädchen jetzt in Grafrath an der Grundschule.

Ginge es nach Christian Pflugfelder, würden gebärdensprachliche Anteile bereits im Schulunterricht vermittelt werden. Mehr visuelle Inhalte und kleinere Klassen wären weitere Maßnahmen, die inklusiven Unterricht für Hörbehinderte leichter machen würden. "Es ist keine Inklusion, wenn alles beim Alten bleibt. Man muss bereit sein, seine Gewohnheiten zu ändern und manchmal auch kreativ werden", sagt er. In Sachen Kreativität ist er ein gutes Vorbild: Als Dolmetscher hat er bereits Film- und Theater-Vorführungen, DJ-Musik auf Partys und sogar Bachs Weihnachtsoratorium für Gehörlose erlebbar gemacht.

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