SZ-Serie: In Seelennot, Teil 3:Die Sucht in den Griff bekommen

In der psychiatrischen Klinik lernen die Patienten ihre Krankheit kennen und erfahren, wie sie mit ihr umgehen und Rückfälle vermeiden können. Statt auf verschlossene Türen und Kontrollen setzen Ärzte und Pflegepersonal auf Vertrauen und Motivation

Von Florian J. Haamann

Murmeln, Knete, ein 3D-Kugellabyrinth. Was für die meisten Menschen nur Spielzeug ist, kann für Suchtpatienten ein Rettungsanker sein. Dann nämlich, wenn sie den Druck spüren, ihrer Sucht nachzugeben. Mit Ablenkungstechniken wird dann das Hirn auf andere Gedanken gebracht und das Stresslevel reduziert. "Skills" heißen diese Techniken in der Fachsprache. Jeder Erkrankte, der auf der Suchtstation der psychiatrischen Klinik in Fürstenfeldbruck, der sogenannten P2, behandelt wird, lernt dort unter anderem die für ihn passenden Skills kennen.

Im Gruppentherapie-Raum öffnet Stationsleiter Simon Schweickardt die hölzerne Skills-Kiste und verteilt zahlreiche Gegenstände auf den weißen Tischen: ätherische Öle, Chilischoten, Luftpolsterfolie, eine Bürste, Brausetabletten. Noch während er aufbaut, kommen zwei Kolleginnen mit den ersten Teilnehmern in den Raum. "Welche Eigenschaften muss ein Skill haben?", fragt eine von ihnen in die Runde. "Wirksamkeit", "sozial verträglich", "nicht selbstschädigend und immer anwendbar", antworten die Patienten und haben damit auch gleich alles zusammen.

SZ-Serie: In Seelennot, Teil 3: Oberärztin Yvonne Hebeisen und StationsleiterSimon Schweickardt sind gemeinsam für die Station P2 verantwortlich.

Oberärztin Yvonne Hebeisen und StationsleiterSimon Schweickardt sind gemeinsam für die Station P2 verantwortlich.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Um zu verstehen, warum die Skills so wichtig sind, muss man verstehen, wie Sucht funktioniert. Wer an einer Sucht leidet, reagiert auf Stresssituationen und bestimmte emotionale Zustände mit Konsum. "Auf den ersten Blick haben Suchtmittel eigentlich nur Vorzüge. Sie sind schnell und effektiv. Die Schäden entstehen erst langfristig. Der Mensch ist aber nun einmal ein Lebewesen, das seine Bedürfnisse möglichst schnell befriedigt haben will", erklärt Schweickardt.

Auf einer Grafik zeigt er die Stresslevel, auf einer Skala von einem bis 100 Prozent. Bis 30 Prozent ist der Ruhebereich, zwischen 30 und 70 der normale Alltagsstress. Darüber aber wird es kritisch. "Ab diesem Punkt macht man Dinge, die man sonst nicht tut und rutscht in Automatismen. Sucht ist ein solcher Automatismus." Wer also nicht in die Sucht zurückfallen will, der muss sein Stresslevel kontrollieren und manipulieren - mit den Skills.

SZ-Serie: In Seelennot, Teil 3: In einer "Skillsbox" sind Gegenstände gesammelt, mit denen die Patienten lernen, ihre Stressbelastung und den Suchtdruck selbst unter Kontrolle zu behalten.

In einer "Skillsbox" sind Gegenstände gesammelt, mit denen die Patienten lernen, ihre Stressbelastung und den Suchtdruck selbst unter Kontrolle zu behalten.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Im Therapieraum erzählen die Patienten von ihren persönlichen Skills. "Ich habe mir überlegt, eine Kaffeemaschine zu kaufen, die verschiedene Getränke machen kann. Dann kann ich mir immer, wenn ich eigentlich Alkohol trinken will, einen besonderen Kaffee machen." "Ich habe eine Rüttelplatte, auf die ich mich stelle." "Ich mag die Murmeln gerne. Aber nicht wegen dem Geräusch, das sie in der Hand machen, sondern weil ich sie schön anzuschauen finde." "Wenn ich Suchtdruck spüre, dann ziehe ich mich möglichst dünn an und gehe nach draußen, damit mir richtig kalt wird." Skills gibt es für alle fünf Sinne, jeder Patient hat andere Dinge und Kanäle, die wirksam sind. Dies alles ist Teil des verhaltenstherapeutischen Programms, der Dialektisch-Behavioralen Therapie, die ursprünglich zur Behandlung von selbstschädigenden Verhaltensweisen entwickelt wurde.

In einem der Patientenzimmer sitzt Ärztin Stefanie Schweizer mit einer jungen Frau, die wegen ihrer Alkoholsucht selbständig in die Klinik gekommen ist. Ein Test zeigt 2,8 Promille. In einem ausführlichen Aufnahmegespräch versucht Schweizer nun möglichst viele Informationen zu gewinnen. Der Restalkohol stamme noch vom Vorabend, eine Flasche Wodka trinke sie momentan täglich, erzählt die Frau. Der Rückfall sei durch eine komplizierte Familiengeschichte ausgelöst worden. Angefangen habe es mit dem Alkohol vor zehn Jahren, nach der Scheidung.

SZ-Serie: In Seelennot, Teil 3: Die Servicekräfte Stanca Flavius Claudiu und Adriana Muth verteilen das Mittagessen der Patienten.

Die Servicekräfte Stanca Flavius Claudiu und Adriana Muth verteilen das Mittagessen der Patienten.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Nach einem Klinikaufenthalt habe sie die Sucht aber unter Kontrolle bekommen. 2015 gab es nach einer Krankheit und zwei Wochen im Koma einen kurzen Rückfall. Und nun eben erneut. "Ich will das nicht mehr", sagt die Ingenieurin, aus ihren geröteten Augen laufen vereinzelte Tränen. "Haben Sie lebensmüde Gedanken?", fragt Schweizer noch, es ist eine wichtige Standardfrage in jedem Aufnahmegespräch. "Nein, gar nicht. Ich habe ja ein Kind". Es liegt an den Ärzten, bei jedem Patienten individuell zu entscheiden, ob sie die Antwort für glaubhaft halten und wie sie damit umgehen. Schweizer glaubt der Frau.

Um die anderen Patienten mit ihrem Alkoholgeruch nicht zu gefährden, wird die Frau während der Ausnüchterung im beschützten Bereich der Station ihr Quartier beziehen. Danach kommt sie auf eines der regulären Zimmer, bis sie ihre Entgiftung geschafft hat. Im Regelfall dauere das ungefähr zehn Tage, sagt Schweizer. Im beschützten Bereich muss die Frau erst einmal alle gefährlichen Gegenstände abgeben. Als die Pfleger ihre Tasche durchsuchen und ihr das Handyladekabel abnehmen, wird die Patienten unruhig. "Das ist meines, das können Sie nicht wegnehmen". Können sie natürlich doch, und so wandert, nach einer Erläuterung der Notwendigkeit, das Kabel zusammen mit Föhn, Kosmetikprodukten, Nageletui und Feuerzeugen in eine transparente Box im Personalbereich. "Wir nehmen den Patienten alle Dinge weg, die gefährlich sein könnten, dazu gehören auch Kabel. Auch Rasierwasser ist beispielsweise nicht erlaubt, weil Alkoholkranke das trinken könnten", erklärt ein Pfleger. In einem Protokoll wird genau festgehalten, welche Gegenstände eingesammelt worden sind. Jeder Patient hat seine eigene Box. Sollte einer von ihnen dringend etwas draus brauchen, ist das jederzeit unter Aufsicht im Personalbereich möglich.

Medikamentöse Behandlung

Während ihrer Behandlung in der psychiatrischen Klinik erfahren die Patienten auch etwas über die Medikamente, mit denen sie behandelt werden - von ihrer Entstehungsgeschichte über die Wirkung bis hin zu den Nebenwirkungen. Als erstes erfahren sie, dass es verschiedene Faktoren gibt, die einen Einfluss auf die Dosierung und die Wirkung der Medikamente haben: unter anderem Alter, Gewicht, Geschlecht, Erbfaktoren und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.

Danach werden die Medikamentenklassen vorgestellt. Die Antipsychotika, auch Neuroleptika genannt, werden zur Behandlung von psychotischen Symptomen verwendet. Sie blockieren die Dopaminrezeptoren im Gehirn und bewirken so eine Linderung der Beschwerden. Eine zweite Medikamentenklasse sind die Antidepressiva. Wie der Name schon sagt, werden sie zur Behandlung depressiver Symptome und ihrer Begleiterscheinungen benötigt. Es gibt verschiedene Klassen, die auf unterschiedliche Weise den Serotonin- und manchmal auch den Noradrenalinspiegel im Gehirn erhöhen. Dopamin, Serotonin und Noradrenalin spielen als Botenstoffe wichtige Rollen im Gehirnstoffwechel.

Biploare Erkrankungen, schizoaffektive Erkrankungen und Suizidalität können mit den so genannten Stimmungsstabilisierern behandelt werden. Tranquilizer werden genutzt, um Patienten zu beruhigen und zu entspannen, vor allem bei Angststörungen. Ziel ist es, die Behandlung mit Tranquilizern möglichst kurz zu halten. Denn nur bei einer kurzzeitigen Behandlung über drei bis vier Wochen muss keine Abhängigkeit befürchtet werden. flha

Durchsucht werden die Patienten nur bei ihrer Aufnahme, nach Ausflügen wird ein Blick in die Taschen geworfen. Ansonsten vertraut das Personal auf die Ehrlichkeit und die Motivation. Wird allerdings ein Verstoß festgestellt, kann das zur sofortigen Entlassung führen.

Neben der Entgiftung und der Verhaltenstherapie erhalten die Patienten auf der Station auch ein suchtspezifisches, psychoedukatives Programm. Dabei wird erklärt, wie Sucht funktioniert und wie die Krankheit verläuft. "Wichtig ist, dass die Betroffenen verstehen, dass es hier nicht um eine Charakterschwäche geht, sondern dass sie eine richtige Krankheit haben", sagt Stationsleiter Schweickardt. In der Therapie lernen die Betroffenen auch, wie sie mit ihrem Umfeld umgehen, wie sie ihre Krankheit kommunizieren können. Zudem wird über Gefühle und den adäquaten Umgang mit ihnen gesprochen. Eine begleitende Ergotherapie soll die Alltagsfähigkeiten der Patienten trainieren. Unterstützung kommt zudem von einem Sozialpädagogen, der über Angebote und Hilfsmöglichkeiten spricht und mit den Erkrankten einen Plan für die Zeit nach dem Aufenthalt entwickelt.

Plötzlich tauchen im Eingangsbereich zwei Rettungssanitäter mit einer Liege auf. Begleitet werden sie von einem halben Dutzend Polizisten. Auf der Liege ist eine junge Frau fixiert, die abwechselnd dumpf stöhnt und gequält aufschreit. Auf dem Weg in den geschützten Bereich informieren die Polizisten Ärztin und Pfleger. Die Frau sei desorientiert aufgegriffen worden. Sie sei nicht ansprechbar und habe sich heftig gewehrt. Deswegen die Handschellen, die ihr nun abgenommen werden. Zusammen mit den Pflegern hieven die Sanitäter die Frau aufs Bett. Dort sitzt sie, schnauft, würgt.

Erst vor zwei Wochen ist sie nach einer Entgiftung von der Station entlassen worden. Auch davor war sie dort schon Patientin. Nun versucht Stefanie Schweizer mit der Frau in Kontakt zu kommen, es scheint, als erkenne sie die Ärztin wieder. Plötzlich murmelt sie "Gift. Ich habe Gift getrunken". Mehr ist nicht zu erfahren. Die Ärzte nehmen die Aussage ernst, denn alkoholisiert ist die Frau nicht, außerdem hat sie bisher nie andere Drogen genommen. Die Frau muss unverzüglich ins nahegelegene Kreisklinikum gebracht werden, entscheidet Schweizer.

Die Untersuchungen, ob und welches Gift die Frau genommen hat, können in der psychiatrischen Klinik nicht gemacht werden. Die Frau kommt wieder auf die Liege, Schweizer eilt zum Telefon im Stationsbereich, um sie in der Kreisklinik anzukündigen. "Sie wird erst einmal dort behandelt und wenn sie stabil ist und es nötig ist, kommt sie in ein paar Tagen zurück zu uns", erklärt die Ärztin.

Wie im Rest der Klinik gibt es auch auf der P2 - außer natürlich im geschützten Bereich - keine verschlossenen Türen. "Es ist nicht unsere Aufgabe, Leute von der Straße zu holen, sondern sie zu behandeln, wenn sie den Wunsch danach haben", erklärt Schweickardt. Deswegen arbeite man viel mit Motivation und Vorgesprächen. "Die Patienten müssen den intrinsischen Wunsch haben und sich klar werden, wo die Lebensqualität liegt, im Normalzustand oder im Rausch." Die Therapiebeteiligung sei hoch, ebenso die Motivation der Patienten. Die Zahlen zeigten, dass es weder mehr Rückfälle noch mehr Abbrecher gebe als in einer geschlossenen Abteilung. Wenn ein Patient das Gefühl habe, das offene Setting sei für ihn nicht das richtige, wird er woanders hin vermittelt.

Auf der Einheit P2 werden vorwiegend Patienten mit Suchterkrankungen, insbesondere Alkoholabhängigkeit, behandelt. Darüber hinaus Patienten, die an einer Depression oder an beiden Erkrankungen leiden. Aber auch Patienten mit nicht stoffgebundenen Süchten wie etwa Spiel- oder Kaufsucht werden dort betreut. Die Behandlung laufe ganz ähnlich, sagt Schweickardt.

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